James Brown trug Lockenwickler

Ein Junge ist ein Junge und kein weiblicher Superstar. Oder? Und ein Weißer ist kein Schwarzer. Oder? Mit der ihr eigenen Leichtigkeit hat Yasmina Reza ein Stück über Identitätssuche geschrieben. Zu Ulrich Wallers Inszenierung von „James Brown trug Lockenwickler“ am St Pauli Theater. 

Jacob bzw Céline bereitet sich auf ihre neue Show vor (v.li: Johanna C. Gehlen, Michael Rotschopf, Dennis Svensson) – Foto: Stephan Wallocha

Die Kritik

James Brown kommt gar nicht vor. Und dass er Lockenwickler trug, ist auch nur so eine Bemerkung, die ganz nebenbei fällt. Aber natürlich gehört es zur augenzwinkernden Nonchalance der französischen Erfolgsautorin Yasmina Reza, dass sie diesen Satz zum Titel ihres jüngsten Stücks emporhebt. „James Brown trug Lockenwickler“ – und wenn schon. Jakob jedenfalls stört sich nicht an irgendwelchen identitätsmanipulierenden Maßnahmen. Er selbst hat seine biologisch beglaubigte Identität schon längst aufgegeben. Seit ein paar Jahren hat er sich nach und nach in Céline Dion verwandelt. Zum Entsetzen seiner gutbürgerlichen Pariser Eltern Lionel und Pascaline Hutner, die ihr Problemkind erst einmal in einer feudalen Anstalt oder – wie sie es nennen – einem Erholungsheim mit psychiatrischer Betreuung unterbringen. Dort freundet er sich mit Philippe an, einem weißen Jungen, der überzeugt ist, ein Schwarzer zu sein und von Céline/Jakob auch als solcher angenommen wird. Zwei junge Männer also, die ihre ursprüngliche Identität aufgeben und sich eine neue, selbst erschaffene annehmen. Die unbeirrt ihre Individualität leben und die Hysterie der Eltern an sich abprallen lassen. Die sich der Norm verweigern wie der Feigenbaum von Philippe (Nabil Pöhls), der nur in eine Richtung wächst und das auch nach dem Umtopfen nicht ändert. 

Die pausenlosen 90 Minuten hätten das Zeug zu einem funkelnden Abend.

Wie so häufig bei Rezas Stücken liegt auch bei diesem dem Leichten, Heiteren eine gewisse Melancholie zugrunde. Es sagt damit so viel mehr über den Zustand einer Gesellschaft aus als ein bitterernstes Lehrstück. Der Schlüssel zu „James Brown trug Lockenwickler“ liegt in seinen absurd erscheinenden Figuren und deren Behauptungen. Aber kommt man dem mit Realismus nahe? Regisseur Ulrich Waller hat es versucht. Seine Inszenierung bleibt am Boden, wagt nicht den Schritt ins Flirrende, Losgelöste. Raimund Bauer hat ihm mit der Projektion einer Parkanlage eine Bühne eingerichtet, die Wirklichkeit widerspiegelt. Spielt die Handlung im Inneren der Einrichtung, leitet ein Black den Szenenwechsel ein und ein bequemer Arztsessel deutet das Zimmer der Psychiaterin an. Der ständige durch Blacks unterbrochene Wechsel tut dem Stück nicht gut. Er nimmt ihm das Tempo, die Leichtigkeit und damit seinen eigentlichen Charme. 

Dabei hätten die pausenlosen 90 Minuten durchaus das Zeug zu einem funkelnden Abend. Und das liegt an seinem Ensemble, allen voran  Dennis Svensson als Jakob/Céline und Mechthild Großmann als Psychiaterin. Svensson verrät seine Figur nicht eine Sekunde ans Lächerliche, übertrieben Tuntige. Er spielt eine elegante, durch und durch von sich, ihrem Talent und ihrem Tourneeplan überzeugte Céline Dion. Ein Superstar eben, der in Lionel (mit knurriger Verzweiflung: Michael Rotschopf) und Pascaline (um Ausgleich bemüht: Johanna C. Gehlen) weniger seine Eltern als vielmehr ein befreundetes Paar sieht, das  leider nicht ganz versteht, was Ruhm bedeutet. Viel gelassener reagiert Mechthild Großmanns Psychiaterin auf ihre Patienten. Ein „Aha“ ihrer ledernen, Zigaretten geschwängerten Stimme reicht schon, um Aufgeregtheiten zu dämpfen. Und wenn sie Lionel in aller Selbstverständlichkeit ihr Credo beim Autofahren erklärt: „Ich bremse nicht. Bremsen heißt kapitulieren“, dann verbietet sich jedes Widerwort von selbst. Diese Lakonie trifft den richtigen Ton und zeigt, was mit diesem Abend möglich gewesen wäre.

Weitere Informationen unter:https://www.st-pauli-theater.de/programm/james-brown-trug-lockenwickler/

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Identitätssuche
  • Individualität vs gesellschaftliche Normen
Formale SchwerpunKte
  • Blacks als Übergang für Szenenwechsel
  • realistische Spielweise
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe

ab 16 Jahre, ab Klasse 11

möglich für Deutsch- und Theaterunterricht

Zum Inhalt

Lionel und Pascaline Hutner sind verzweifelt. Ihr Sohn Jacob meint allen Ernstes, der kanadische Star Céline Dion zu sein. Er kleidet sich wie sie, probt ihre Songs, trägt Tourneepläne ein. Die Hutners, ein Paar aus der gehobenen Pariser Mittelschicht, kommen mit der angenommenen Identität ihres Sohne überhaupt nicht klar. Sie gehen liebevoll mit ihm um, stecken ihn aber doch lieber in eine feudale psychiatrische Klinik (sie nennen es „Erholungsheim“), um ihn von seinem „Problem“ zu heilen. Denn die Mutter will doch gerne „meinen Sohn zurück“. In der Klinik lernt Jacob Philippe kennen und erkennt, dass auch noch andere Menschen ihre Identität wechseln möchten. Philippe, ein weißhäutiger junger Mann, versteht sich nämlich als Schwarzer und wittert hinter jeder nicht ganz korrekten Bemerkung Rassismus. Sowohl Jacob als auch Philippe werden ihr Leben individuell weiterleben und an der selbst gewählten Identität nichts ändern.

   

Mögliche VorbereitungeN
Als Hausaufgabe oder über Referate
  • Recherche zu Yasmina Reza und ihrem Werk
  • Recherche zu Geschlechteränderung
  • Recherche zu Identitätsproblemen
Im Unterrichtsgespräch
  • Mit welchen Problemen wird jemand konfrontiert, der sein Geschlecht/seine Identität ändert?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert