Inspiriert durch den Atomphysiker Stephen Hawking und die bildende Künstlerin Etel Adnan erschafft Robert Wilson eine spannende Inszenierung am Thalia Theater
Die Kritik
Das mit der Party für Zeitreisende ging schief. Stephen Hawking wollte herausfinden, ob Zeitreisen möglich sind und hatte zu diesem Zweck die Einladungen erst nach dem Party-Termin verschickt. Kam natürlich keiner. Hawking war enttäuscht, aber immerhin mit seinen Untersuchungen ein Stück weiter gekommen. So weit die Anekdote. Der Schauspieler Jens Harzer erzählt sie zusammen mit ein paar anderen in Robert Wilsons „H“ 100 seconds to midnight.
Die mit stehenden Ovationen gefeierte Uraufführung im Thalia Theater ist inspiriert durch den Physiker Hawking und die Poetin und bildende Künstlerin Etel Adnan. Beide wussten von der seit 1947 bekannten „Doomsday Clock“, nach der der Menschheit nur noch wenig Zeit bleibt bis zu ihrem eigenen Untergang oder zu dessen möglicher Abwendung.
„Is there a God?“
Hawking forschte, stellte Fragen: Wo beginnt das Universum? Was befindet sich in einem Schwarzen Loch? Gibt es einen Gott? „Is there a god?“ echot es dann aus dem Off und die Figuren stehen still vor Staunen, Ratlosigkeit oder Ehrfurcht.
Wilson, wie immer zuständig für Regie, Bühnenbild und Licht, knüpft mit dieser Arbeit stilistisch an seine Anfänge in den 80erJahren an. Damals hatte er mit seinem „formal theatre“ , wie er es nannte, der Theaterwelt einen neuen, radikalen Schub versetzt: überwältigende Bilder und streng formalisierte, jedem Realismus beraubte Figuren. Der Text spielte nur eine untergeordnete Rolle.
So könnte die Apokalypse klingen
32 Jahre nach seinem epochemachenden The Black Rider und zwanzig Jahre nach seiner letzten Inszenierung ist Wilson mit „H“ 100 seconds to midnight, ans Thalia Theater zurückgekehrt. Der knapp zweistündige Abend beginnt vor einer schwarzer Wand mit einem Free-Jazz-Saxophon-Gewitter, das einem die Ohren wegbläst. So könnte die Apokalypse klingen. Es folgen drei durch eben diese Wand voneinander getrennte Teile, von denen der erste zunächst poetisch beginnt („Was, wenn sich mir ein Rosenstock zuwendete und mich in sein Herz schlösse?“), dann aber mit Texten zur Physik recht sperrig wird. Wenngleich Wilson auch in dieser Arbeit sein Ensemble (neben Jens Harzer, Marina Galic, Barbara Nüsse, Tim Porath, Pauline Renévier) in starre Kostüme (Julia von Leliwa) und mit streng choreografierten Bewegungen wie Puppen wirken lässt, gibt er ihnen diesmal wahre Textmassen, die teilweise durch Echos oder in Loops wiederholt werden und dadurch etwas Künstliches bekommen.
„Ich weiß nicht, wie Kinder träumen“
Vielleicht musste man sich auch erst an die Texte und deren Gestaltung gewöhnen, denn nach dem ersten Teil beginnt der Abend zu flirren: Es gibt Wechsel zwischen stiller Ratlosigkeit und komischen Szenen, ja sogar Showeinlagen, überwältigende Bilder, untermalt von Tanz (Choreografie: Lucinda Childs), von der Musik (Philipp Glass, Coco Rosie) zum Ende hin immer heftiger vorangetrieben. Der Untergang scheint greifbar. Doch dann zeigt das letzte Bild ein schwarzweißes Video mit Stephen Hawking als Kind. Unschuldig spielt er am Strand. „Ich weiß nicht, wie Kinder träumen“, kommentiert Marina Galic. „Aber auf ihren Bildern gibt es meistens eine Sonne.“ Auf der Bühne hüpfen Kinder und lachen. Vielleicht ist ja doch noch nicht alles verloren.
https://www.thalia-theater.de/stueck/h-100-seconds-to-midnight-2022
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
Philosophische Fragen stehen im Zentrum: Gibt es einen Gott? Wo beginnt das Universum? Was war vor diesen Beginn? Welche Rolle spielt der Mensch?
Formale Schwerpunkte
Formal ausgerichtetes Bildertheater,
Marionettenhafte Bewegungen, Rhythmisieren und Gestalten von Texten durch Wiederholungen, Echos, Verzerrungen,
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
- ab 16 Jahre, ab Klasse 10/11.
- für Philosophie-, Kunst- und Theaterunterricht
Zum Inhalt
Inspiriert durch den Physiker Stephen Hawking und die bildende Künstlerin Etel Adnan nähert und umkreist der Abend in drei getrennten Teilen die großen Fragen der Menschheit. In den poetischen und wissenschaftlichen Texten geht um Liebe, die Suche nach Erkenntnis, um Nachrichten aus dem Universum, um den Big Bang und um die nach unten zählende Doomsday Clock. Es gibt keine Handlung, vielmehr Assoziationen zu bestimmten Themen
Mögliche Vorbereitung
Wer war Stephen Hawking? Vorbereitung über Referat oder Präsentation
Wer war Etel Adnan? Vorbereitung über Referat oder Präsentation
Wer ist Robert Wilson? Präsentation von Auszüge zu seiner Theaterarbeit.
SPEZIEll Für den Theaterunterricht
Vorbereitung im Zusammenhang mit einer Unterrichtseinheit zu Regiestilen.
Spezielle Übungen zu Zeitlupe, Freeze, Marionetten, Bauen von Standbildern und Tableaus zu bestimmten Begriffen.
Vorschläge für Übungen
Übung 1
Gehen nach Anweisung, Mimik und Gestik unterstützen den Gang, beenden die Bewegung mit einer Pose.
- Du hast dir den Knöchel verknackt und kannst kaum auftreten.
- Du hast unglaubliche Kopfschmerzen, vor allem wenn du dich bewegst.
- Dein Herz rast, weil du gerade einen Liebesbrief bekommen hast.
- Du kommst völlig betrunken nach Hause.
- Du hast das Casting gewonnen und kommst auf die Bühne.
- Deine Hüften sind steif und unbeweglich.
- Du hast Angst, dass dich jemand verfolgt.
- Du schleichst übertrieben vorsichtig nachts in dein Zimmer.
- Du hast unglaubliches Nasenbluten.
- Du bist so fett, dass du kaum durch die Tür kommst.
- Dein rechtes Knie ist nicht zu kontrollieren, du willst, dass es keiner merkt.
Körper ausschütteln, Körper spüren
Übung 2
Voodoo-Puppe:
Spieler:innen arbeiten zu zweit. Ein Konflikt wird über einen Gegenstand, z.B. Flasche, Federtasche ausgetragen: Wird dieser geschlagen, zeigt der/die Mitspielende eine Reaktion auf den Impuls über den eigenen Körper. Wichtig: unterschiedliche Impulse geben(schlagen, treten, auf den Boden werfen, streicheln, küssen), unterschiedliche Impulse rufen unterschiedliche Reaktionen hervor.
Übung 3
Marionettenspieler
Paarweise: A bewegt mit einem imaginären Faden die Körperteile von B; dann Wechsel
Übung 4
Verschiedene Handlungen oder Bewegungen werden in Tocs ausgeführt, z.B.: Haare kämmen, gehen, Zähneputzen, sich begrüßen, sich umdrehen, aufstehen u.ä. Dabei werden die
einzelnen Bewegungen in kleine Abschnitte zergliedert. Die Spielleitung gibt akustische Signale (z.B. über Klanghölzer), die die einzelnen Bewegungsabschnitte voneinander trennen.