Frühlings Erwachen

Die Leistungsgesellschaft frisst ihre Kinder. Zu Anton Plevas überambitionierter Inszenierung im Ernst Deutsch Theater.

Jugend unter Druck: Moritz (Felix Oitzinger), Melchior (Maximilian Kurth) und Wendla (Linda Stockfleth) – Foto: Oliver Fantitsch

Die Kritik

Ein verspielter, unaufgeräumter Ort, ein sogenannter Lost Space vielleicht. Erwachsene haben hier nichts zu suchen, er gehört den Jugendlichen. Sie können die Trennwände der einzelnen Parzellen besprühen, auf den Dächern herumturnen, Musik hören und unter Lichterketten feiern. Nacheinander treten sie auf mit kurzen Röckchen, wild gemusterten Hosen, Lederjacken (Ausstattung: Timo von Kriegstein):  Wendla (Linda Stockfleth), Moritz (Felix Oitzinger), Melchior (Maximilian Kurth), Ilse (Denise Teise), Martha (Alina Hidic) und Hänschen (Ivo Massanek), die Hauptfiguren aus Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“. 1891 erstmalig publiziert, barg dieses als  „Kindertragödie“ apostrophierte Stück solchen Sprengstoff, dass sich erst fünfzehn Jahre später Max Reinhardt an eine Uraufführung in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin traute. Wedekind hatte erstmalig die Nöte von Vierzehnjährigen ins Zentrum gerückt. Ihr Scheitern an den starren Normen der Erwachsenen war eine Ohrfeige in das Gesicht der konservativen Wilhelminischen Gesellschaft, in der nur Leistung zählte und Sexualität schamhaft verschwiegen wurde.

Merkwürdig, dass die jungen Leute dieselben Namen tragen wie die Figuren bei Wedekind.

Hat ein solches Stück 2023 noch eine Relevanz? Diese Frage mag Anton Pleva in seiner ersten Regiearbeit (er hatte sie bereits zwei Jahre zuvor begonnen, aber pandemiebedingt abgebrochen) geleitet haben. Sie ist ja auch völlig berechtigt, denn Verstaubtes will niemand auf der Bühne erzählen und schon gar nicht sehen. Mit einem sehr jungen Ensemble versucht Pleva, die Kindertragödie ins Heute zu ziehen. Das beginnt damit, dass Hänschen ein Reclamheft entdeckt und den anderen den Titel „Frühlings Erwachen“ vorliest. Mit übertriebenem Pathos und allzu großen Gesten lesen Ivo Massanek und Alina Hidic die erste Szene zwischen Wendla und ihrer Mutter. Man macht sich über die Sprache lustig, findet alles irgendwie doof. Aber so sind sie halt, die jungen Leute. Merkwürdig nur, dass Massanek, Hidic und die anderen auch dieselben Namen tragen wie die Figuren bei Wedekind. Erst Melchior klärt auf, dass das Stück brandaktuell sei. Dass es die Leistungsgesellschaft mit ihrem Mantra „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“ ebenso wie die Verantwortungslosigkeit der Elterngeneration thematisiere. Er spannt den Bogen zu Klimakatastrophe, Fridays for Future und Kapitalismus und wird ihn im Verlauf des zweieinhalbstündigen Abends immer wieder mal allen ins Bewusstsein rufen. 

Wieso soll ein so selbstbewusst erscheinendes Mädchen wie Wendla an den Storch glauben?

Offenbar hat er damit die anderen überzeugt. Denn plötzlich treten sie übergangslos in den Wedekind-Text ein – und von da an wird es inkonsequent. Die Inszenierung macht nicht deutlich, dass oder ob das Ganze nur Spiel von Jugendlichen aus dem Jahr 2023 ist. Teilweise wird ein realistischer Ton bemüht, dann wird wieder ganz furchtbar übertrieben, ja beinahe chargiert, so dass der Eindruck entsteht, hier stehen Laien auf der Bühne. Was natürlich nicht der Fall ist. Denn es gibt auch die durchaus gelungene Lehrerzimmer-Szene, in der Melchior wegen seiner Aufklärungsschrift verhört und von der Schule fliegen soll. Schon Wedekind hatte sie überzeichnet, Pleva und Ensemble legen noch eine Schippe drauf und stellen das Kollegium als Clowns dar – um dann aber wieder in ein durchaus realistisches Spiel zu springen. Das möglicherweise beabsichtigte Verwischen der Grenzen zwischen Originaltext und Jugendlichen heute macht das Ganze aber eher unsauber: Wieso soll ein selbstbewusst erscheinendes Mädchen wie Wendla an den Storch (!) glauben und wieso findet dann wieder Hänschen seinen Text (es geht um Masturbation) plötzlich „voll peinlich“? 

Plevas Absicht, die Relevanz des Stückes für die heutige Jugend deutlich zu machen, bleibt gut gemeint, wird in der gewählten Form aber nicht deutlich. Dabei bietet „Frühlings Erwachen“ doch Ansätze genug: ungewollte Schwangerschaften aufgrund fehlender Aufklärung (wie die von Wendla), Abtreibung, Leistungsdruck (bei Moritz), häusliche Gewalt (Martha wird von ihrem Vater regelmäßig geschlagen) – all diese Themen sind –  noch immer aktuell. Man muss sich nur überlegen, wie man das heute inszeniert. Am Ende verführt „Der vermummte Herr“ (Anton Pleva) Melchior, der sich wegen seiner empfundenen Schuld am Tod von Moritz und Wendla umbringen will, zum Leben. Hoffnung also für die Jugend, unterstrichen dadurch, dass alle mit dem Musiker Henrik Demcker Tom Pettys trotziges „I won’t back down“ anstimmen – einen Song gegen Fremdbestimmung und für persönliche Stärke. Gute Idee, aber eben nur eine von vielen innerhalb einer zu überambitionierten Inszenierung. 

https://www.ernst-deutsch-theater.de/programm/veranstaltung/fruehlings-erwachen-287

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Leistungsdruck
  • Tabuisierung von Sexualität
  • Behauptung der Jugend gegen Normen der Erwachsenenwelt 
Formale SchwerpunktE
  • Annäherung an Originaltext durch Spiel
  • Übertreibungen
  • Clownerien
  • Einbindung von Femdtexten
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
  • ab 15/16 Jahre, ab Klasse 9/10
  • empfohlen für Ethik-, Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt

Eine Gruppe von sechs Jugendlichen findet die Reclam-Ausgabe von Wedekinds „Frühlings Erwachen“. Zufällig tragen sie alle die Namen der Hauptfiguren und zum Teil auch deren Charakterzüge. Zum Beispiel Melchior, ein intelligenter und cooler Junge. Er ist es, der den anderen die Relevanz des 100jährigen Stückes für heutige Generationen erklärt und die Gruppe dafür gewinnt, sich dem Text zu nähern. Entsprechend ihrer Namen nehmen die Jugendlichen ihre Rollen an und erzählen das Stück im Wesentlichen entlang des Originals.

Im Zentrum stehen Melchior, Wendla und Moritz. Sie gehen alle in dieselbe Klasse, aber Melchior ist derjenige, der wegen seines Äußeren und seiner Klugheit von allen umschwärmt wird. Moritz dagegen hat Schwierigkeiten in der Schule und droht, sitzenzubleiben. Seine Eltern üben solchen Druck aus, dass er sich im Fall einer Nichtversetzung umbringen will. Melchior hilft ihm zwar bei den Hausaufgaben und klärt ihn zudem über drängende Fragen zur Sexualität mit Hilfe einer Zeichnung auf. Aber Moritz schafft die Versetzung dennoch nicht. Er erschießt sich, gerade einmal vierzehn Jahre alt. 

Melchior trifft sich mit Wendla, die wie Moritz nicht aufgeklärt ist. Nachdem sie miteinander geschlafen haben, wird Wendla schwanger. Wenig später stirbt sie an einer von ihrer Mutter initiierten Abtreibung. Melchior, dessen Zeichnung für Moritz in der Schule gefunden wurden, muss sich vor dem Lehrerkollegium verantworten und wird letztlich der Schule verwiesen. Seine an sich sehr liberalen Eltern sehen sich genötigt, ihn in eine Korrektionsanstalt zu stecken. von dort bricht Melchior aus mit der Absicht, sich aufgrund der empfundenen Schuld für den Tod von Moritz und Wendla umzubringen. Ihm erscheint jedoch „der vermummte Herr“ und verführt ihn zum Leben.

Die Jugendlichen feiern dieses hoffnungsvolle Ende mit einer kleinen Party.

Mögliche VorbereitungeN

Als vorbereitende Hausaufgabe oder als Referat

  • Rezeption zu Lebzeiten Wedekinds
  • Inhalt zu „Frühlings Erwachen“ oder Lektüre des Stücks
  • Biografie von Frank Wedekind

Im Unterrichtsgespräch nach vorbereitender Hausaufgabe

  • Welche Prinzipien leiten unsere Gesellschaft?
  • Welche Wirkung hat das auf die Nachfolgegeneration?
  • Wie geht diese Generation damit um?
  • Welche Veränderungen sind möglich? 
Speziell für den Theaterunterricht: 
Übungen zu Karikatur und Übertreibung

Die Spielleitung teilt Dreiergruppen ein. Die Spieler*innen gehen hintereinander, A nimmt eine bestimmte Gangart an, B treibt sie weiter, C übertreibt sie extrem

Variation 1

Die drei Spieler*innen sitzen nebeneinander. A vollführt eine Geste, die bis zu C extrem gesteigert wird.

Variation 2

Die drei Spielenden stehen auf der Stirnseite des Raumes. Die Spielleitung nennt bestimmte Gefühle (z.B.: Freude, Trauer, Angst, Wut, Nervosität, Erschrecken, Trotz). Die Spieler*innen bewegen sich langsam auf das Publikum zu, indem sie anfangs das jeweilige Gefühl ganz klein darstellen, es steigern und am Ende vor dem Publikum im Extremen landen.

Aufgabe:

Erstellt eine Szene auf der Grundlage von Wedekinds „Frühlings Erwachen“, dritter Akt, Szene 1, (https://www.projekt-gutenberg.org/wedekind/erwachen/chap03.html)unter Verwendung der Mittel zur Übertreibung.