Spatz und Engel

Wann hat man zuletzt im Ernst Deutsch Theater spontan stehenden Applaus gesehen? Genau. Nach der Premiere von „Spatz und Engel“.

Die Dietrich (Anika Mauer) sorgt sich um Piaf (Vasiliki Roussi) – Foto: Barbara Braun/drama-berlin.de

DIE KRITIK

„Sie ist ein Meter zwanzig groß und sexy wie Godzilla.“ So beschrieb ein New Yorker Kritiker Edith Piaf. DIE Piaf. In Europa war sie bereits ein gefeierter Star, jetzt wollte sie Amerika erobern. Das war 1947, aber der Plan ging erst einmal ziemlich nach hinten los. Die Konzerte nur mäßig besucht, von Begeisterung ganz zu schweigen. In dieser Zeit trifft Marlene Dietrich sie Backstage. Es sollte der Beginn einer wenn nicht wunderbaren, so doch doch leidenschaftlichen Freundschaft oder Beziehung werden, extreme Höhen und Tiefen inklusive.

Die Begegnung zwischen den beiden Weltstars steht am Anfang von„Spatz und Engel“, einer Ko-Produktion zwischen dem Berliner Renaissance Theater und dem Ernst Deutsch Theater. In Hamburg wurde die Premiere zu Recht mit stehenden Begeisterungsstürmen gefeiert. „Spatz“ – das ist das deutsche Wort für das französische „le piaf“. Edith Giovanna Gasson, so ihr bürgerlicher Name, war tatsächlich Zeit ihres Lebens sehr klein und zerbrechlich, was ihr den Künstlernamen Piaf einbrachte. „Engel“ – weil Marlene Dietrich es mit dem Film „Der blaue Engel“ zu Weltruhm gebracht hatte. Vielleicht aber auch, weil sie für die Piaf stets die Umsorgende, der Engel eben, war. 

Die verspiegelte Bühne macht das Hamburger Publikum zum Mitspieler

Die spartanisch ausgestattete Bühne besticht durch eine schräg gestellte verspiegelte Rückwand (Bühne und Kostüme: Herbert Schäfer, Vasilis Triantafillopoulos). Sie verdoppelt den Raum, das Publikum im Ernst Deutsch Theater sieht sich selbst und wird gleichzeitig zum Mitspieler: als Zuschauer*innen am Broadway, in Las Vegas, im Pariser Olympia. Ort und Zeit – von der ersten Begegnung der beiden Frauen bis zu Piafs Tod und Dietrichs letztem Auftreten in Berlin – werden über eine Leuchtschrift oberhalb der Bühne eingeblendet. 

„Ein Theaterstück mit Musik“ haben die Autoren Daniel Große Boymann und Thomas Kahry „Spatz und Engel“ bezeichnet. In der Tat ist es wohl eher eine Revue, ein Liederbogen, der sich lose an den einzelnen Stationen der Beziehung zwischen den beiden orientiert und von Flügel (Harry Ermer) und Akkordeon (Eugen Schwabauer) sensibel begleitet wird. Doch das gelingt tatsächlich fantastisch. Anika Mauer zeigt eine souveräne, von jeglichem Getue, von jeder Aufgeregtheit unbeeindruckte Dietrich. Piaf kommt nicht wie verabredet zu Dietrichs Proben für die Las Vegas Show, um ihr zu helfen? „Zur Not macht mich immer noch das Kleid zur Sensation“, befindet sie gelassen. Eine Grande Dame mit ruhigen Gesten, dunkler Stimme, die mehr Sprech- als Gesang ist und gerade deshalb mit dem Anti-Kriegslied „Sag mir, wo die Blumen sind“ das Publikum ins Herz trifft. Für die kleine, zwischen verkorksten Lieben, Drogen und Alkohol zerriebene Piaf empfindet sie eine zärtliche Verantwortung, ja Liebe. Ob die für beiderlei Geschlecht offene Dietrich tatsächlich eine lesbische Beziehung zu Piaf hatte, ist nie belegt worden. Auch die Inszenierung belässt es bei Andeutungen durch Umarmungen oder Blicken. 

Vasiliki Roussi verkörpert Piaf mit Haut und Haaren

Während Mauers Dietrich als ruhiger Pol eher im Hintergrund die Fäden zieht, steht Piaf mit ihrer ganzen Tragödie im Fokus. Die wunderbare Vasiliki Roussi spielt, nein: verkörpert Piaf mit Haut und Haaren. Sie ist das verunsicherte Wesen backstage in New York, die sich von jedem ihrer zahllosen Männer (als Darsteller unterschiedlicher Personen: Ralph Morgenstern, Guntbert Warns) die endgültige, immerwährende Liebe erhofft und sie in dem Boxer Marcel Cerdan zu finden glaubt. „Mon Dieu, Mon Dieu, Mon Dieu/ Laissez-le-moi, encore un peu“(„Mein Gott, lass ihn mir noch ein bisschen“), fleht sie so herzzerreißend in dem Chanson, dass nicht nur ihr dabei die Tränen herunterlaufen. Dann wieder lässt sie sich herumwirbeln, strahlt und lässt mit „Mylord“ das Publikum (in Paris? Nein, in Hamburg) toben. Am Ende sitzt sie eingehüllt in eine Decke wie ein räudiges Vögelchen im Rollstuhl. Die Dietrich ist bei ihr, als ihr ein Agent ein Chanson anträgt. Nein, sagt Dietrich, Piaf werde nicht mehr singen, das sei zu viel für sie. Aber Piaf, die immer ihr Licht an beiden Enden angezündet hat, hört sich die Melodie an. Dann steht sie auf, wirft die Decke von sich und schmettert: „Non, je ne regrette rien“. Ein großes Trotzdem, ein Bekenntnis zum Leben – und das Publikum ist nicht mehr zu halten. Ein großer, ein bewegender Abend!

Näheres unter:https://www.ernst-deutsch-theater.de/programm/veranstaltung/spatz-und-engel-285

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • die Beziehung zwischen Edith Piaf und Marlene Dietrich
  • Dietrichs Verantwortungsbewusstsein und Fürsorge
  • Piafs haltloses Leben
  • Dietrichs Rückkehr nach Deutschland
Formale Schwerpunkte
  • Chansons als Mittel der Erzählung
  • Choreografien zu einzelnen Ereignissen
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
  • ab 16 Jahre, ab Klasse 10
  • empfohlen für Französisch-, Musik- und Theaterunterricht
Zum Inhalt

1947 begegnet Marlene Dietrich der französischen Sängerin Edith Piaf in New York. Piaf ist in Europa ein Star, in den USA ist sie ein Niemand, ihre Konzerte verkaufen sich nur sehr mäßig. Dietrich hatte Deutschland bereits lange zuvor in Richtung Amerika verlassen und es durch den Film „Der blaue Engel“ zu Weltruhm gebracht. Dietrich empfindet eine zärtliche Verantwortung, wenn nicht gar Liebe für Piaf, die in New York so unsicher wirkt. Beide freunden sich an, ob es eine tatsächliche Liebesbeziehung wird, ist nicht belegt. Dietrich begleitet Piaf. Sie sieht, wie die sich zwischen verschiedenen Liebhabern aufreibt, immer wieder enttäuscht wird und nach dem Tod des Boxers Marcel Cerdan, ihrer ganz großen Liebe, von Depressionen, Alkohol und Drogen zerstört zu werden droht. Dietrich begleitet Piaf bis zu ihrem Tod 1963. Sie selbst lebt noch knapp dreißig Jahre länger, kehrt sogar für Auftritte nach Berlin zurück und stirbt 1992 in Paris. 

Mögliche VorbereitungeN

Über Referate, als vorbereitende Hausaufgabe oder in Gruppenarbeit:

  • Biografie zu Marlene Dietrich (ihre Haltung zu Deutschland während und nach dem zweiten Weltkrieg)
  • Biografie zu Edith Piaf
  • Auswahl und Interpretation bestimmter Chansons in Bezug auf die jeweiligen Biografien und die historischen Umstände („Mon Dieu“, „La Vie en Rose“, „Non, je ne regrette rien“; „Sag mir wo die Blumen sind“ o.ä.) 
Speziell für den Theaterunterricht: 

Die beiden Darstellerinnen unterscheiden sich durch die Kostüme, die hier auch den jeweiligen Charakter untermauern.

Vorbereitung

Die Gruppe wird gebeten, zu der Stunde jeweils ein besonderes Kostümteil mitzubringen (eventuell besitzt die Schule auch einen gut sortierten Fundus). Die Kostümteile werden am Anfang der Stunde ausgelegt.

Vorbereitender Text

Die Schauspielerin Corinna Harfouch zur Bedeutung des Kostüms                

Schuhe sind schon wichtig. Kostüm ist überhaupt hilfreich. Da gibt es oft unvermutete Geschenke. Bei Lara zum Beispiel (…) haben (wir) viel ausprobiert, um das Richtige zu finden. Ganz am Ende wurde es dann dieser rote Mantel. Der ist ein bisschen steif, dazu die Schuhe, halbhohe Absätze, die sorgen für einen unsicheren, wackeligen Gang, und das Kleid ist gerade so eng, dass sie sich darin nicht hundertprozentig wohlfühlt. All das macht etwas mit der Figur.

Am allerersten Drehtag hatte ich einen Gang im Kostüm. Ich hatte mir gar nichts überlegt, bin einfach losgelaufen, das war in einem Park, und plötzlich wusste ich, das ist eine Frau, die ist in der Mitte ihres Körpers ganz fest. Da hält sie sich. Die muss sich halten. Sonst wäre alles vorbei. Ich habe ihren Gang vorher nicht geübt, das kam einfach. Und mit ihren Schuhen und diesem Festhalten in der Körpermitte ergab sich ein bestimmter Gang, in dem so eine irrsinnige innere Beherrschung lag. Es war gleich richtig. Und vom Gang aus erschließt sich auch ganz viel von der restlichen Figur.

Ein Kostüm kann irrsinnig hilfreich sein, sich darin so oder anders zu bewegen und sich gleichzeitig auch unterschiedlich zu fühlen. Das macht sofort etwas mit einem.

(aus: Süddeutsche Zeitung am 2./3. November 2019)

Präsentation des Kostüms als Zeichen 

Die Spielleitung wählt zwei Schüler*innen als Models. Der Rest der Gruppe sitzt als Publikum vor der Bühne und schließt zwischen den einzelnen Auftritten der beiden Spieler*innen die Augen. Die Spieler*innen tragen schwarze Grundkleidung und ergänzen sie bei den einzelnen Auftritten durch unterschiedliche Kostümteile wie dicke Socken/ Pumps/ Federboa/ Schürze/ Seemannsmütze/ Gummistiefel/Soldatenjacke o.ä.

Reflexion in der Gruppe: Was leistet ein Kostüm? 

Teilung des Kurses in zwei Gruppen

Aufgabe:
  • Sucht euch aus dem mitgebrachten Material ein Kostüm zusammen (es kann auch ganz reduziert sein). Überlegt dann, was für eine Figur ihr in diesem Kostüm seid.
  • Gebt euch einen Namen und erfindet eine kurze Rollenbiografie. Probiert, wie diese Figur geht, wie sie sich hinsetzt, wie sie spricht.
  • Entwickelt zu folgender Situation eine Szene und berücksichtigt dabei, was zu Auf- und Abgang einer Figur gesagt wurde:
  • Die Figuren begegnen einander an einer Bushaltestelle. Der Bus hat 15 Minuten Verspätung.  
  • Jede Figur darf in der Szene maximal 3 Wörter sagen. Wichtig sind hier aber die paralinguistischen Zeichen. Daneben aber auch proxemische Zeichen (Gang, Gestik, Mimik)