Anarchisten, Wahnsinnige, Opportunisten – mit einem überragenden Ensemble bringt Jette Steckel eine komprimierte Fassung von Albert Camus’ Drama auf die Bühne.
DIE KRITIK
Die Hölle entsteht nach und nach. Das riesiges Gemälde nach Motiven von Hieronymus Bosch auf der hinteren Bühnenwand ist noch nicht fertig. Tim Burchardt, der Bühnenmaler, vervollständigt die Fabelwesen und dämonischen Figuren, die das Böse im Menschen sichtbar machen, erst im Laufe der Vorstellung. Er ist bereits am Werk, wenn die Schauspieler*innen mit quadratischen Holzkästen von der Seite die Vorbühne betreten, und liefert ihren Figuren den Rahmen. Denn sie schmieren bunte Farbe in die Haare und wirken wie lebendige Teile des Gemäldes. Verstärkt wird dieser Eindruck durch das warme Licht (Paulus Vogt), das manchmal Einzelne hell hervorhebt, langsam erlischt und das Bild schwarz werden oder die Figuren im Gegenlicht wie Schatten erscheinen lässt.
Es ist eine Art Hölle, in der Jette Steckel ihr 10köpfiges Ensemble auf der Vorbühne zusammenpfercht. Albert Camus’ „Die Besessenen“ hat sie sich vorgenommen, ein Drama, in dem extreme Positionen hinsichtlich ihrer Haltung zur Welt verhandelt werden. Der Existenzphilosoph Camus, fasziniert vom Werk des russischen Autors Dostojewskij, hatte dessen knapp 1000-seitigen Roman „Dämonen“ Ende der 1950er Jahre verdichtet und dramatisiert. Die Uraufführung 1959 dauerte fünf Stunden, Jette Steckels Inszenierung kommt mit der Hälfte aus. Dafür hat sie sich auf deutlich weniger Figuren konzentriert, die alle unterschiedlich radikalen Ideen folgen, um mit der Welt und dem Absurden zurechtzukommen.
Ein echter Brocken – und doch unbedingt sehenswert
Die Straffung hat ihren Preis. Nicht immer wird für den, der die Roman- oder Dramenvorlage nicht kennt, deutlich, in welcher Beziehung die einzelnen Figuren zueinander stehen. Nicht immer gelingt es, dem schnellen Schlagabtausch der Ideen zu folgen. Denn es sind viele unterschiedlich radikale Ideen und deren entsprechende Konsequenzen, die hier formuliert werden. Das Stück lebt vom Diskurs, weniger von der Handlung. Ein echter Brocken also, und doch ein unbedingt sehenswerter. Denn da ist nicht nur die jedwede Assoziation ermöglichende Bühne (Nadin Schumacher, Jette Steckel), da ist die Musik (Felix Knopp, Lars Wittershagen), die mit untergründigem Sound oder Songs mit kommentierenden Texten eine zusätzliche Ebene einzieht; da sind die Choreografien (Yohan Stegli), die das Ensemble einen Höllentanz vollführen lässt. Und da ist eben vor allem das fantastische Ensemble. Spannende Figuren entstehen hier, Menschen mit irrwitzigen, angsteinflößenden Ideen, Zyniker und Wahnsinnige, Besessene eben.
„Ich hasse alles und am meisten mich selbst!“
Im Zentrum steht Nikolai Stawrogin. Kühl und scheinbar unbeteiligt zeigt ihn Jirka Zett zu Beginn. Ein undurchsichtiger Zeitgenosse, nicht greifbar und daher faszinierend für all die Hitzköpfe um ihn herum. Aber Stawrogin ist brandgefährlich, das entwickelt Zett im Laufe des Abends. „Ich hasse alles und am meisten mich selbst“, schreit er. So einem ist alles egal, der kann eine Gesellschaft in die Luft jagen, ohne Reue zu empfinden. Stawrogins Gegenspieler ist Pjotr. Mit cooler Sonnenbrille bedient er bei Sebastian Zimmler nicht nur das Keyboard (und bestimmt damit auch zum Teil den Rhythmus des Geschehens). Er ist ein zynischer Anarchist, der sich als „Erlöser“ sieht, der Terror- oder, wie er es nennt: Revolutionszellen aufbauen und den Umsturz vorbereiten will. Was am Ende dabei herauskommt? Das will er sich dann genüsslich von seinem Wochenendhaus auf Sylt aus ansehen (Übrigens steht der Zusatz weder bei Camus noch bei Dostojewskij. Er ist eine Idee des Schauspielers). In dem nicht minder radikalen Liputin (André Szymanski) hat er jemanden auf seiner Seite. Liputin will die Armee und die Flotte abschaffen und „alles zerschlagen“.
Ungefährlich wirkt zunächst Felix Knopps Schatow. Er spielt die Orgel, singt und gibt vor, an Gott zu glauben. Das passt aber überhaupt nicht zu seiner Faszination für Stawrogin. Einmal lässt er sich sogar herab, ihm wie Jesus seinen Jüngern die Füße zu waschen. Seine Unentschiedenheit macht Schatow gefährlich, darin ähnelt er Wirginski. Julian Greis gibt ihm einen entwaffnend fröhlich-ehrlichen Opportunismus. Eigentlich möchte er Pjotrs geplantes Mordkomplott nicht unterstützen, aber wenn alle dafür sind… Manchmal braucht es im Wirrwarr der Ideen eine seltsame Verrückte/ Entrückte wie Lisa Hagmeisters Marja. Stawrogin („mein Prinz“) hat sie aus einer Laune heraus geheiratet, und während sie auf seine Liebe hofft, stopft sie den dauerstreitenden Ideologen mit einem Brötchen einfach mal das Maul. So weit geht Stefan Werchowenski, Vater des Anarchisten Pjotr und Lehrer, nicht. Er ist bei Barbara Nüsse ein weiser Betrachter. An radikalen Ideen hat er kein Interesse, denn, so stellt er am Ende fest, die Zeit vergeht so schnell. „Und Sie – leben Sie mehr!“, ruft er am Ende dem Publikum zu. Dieser Satz stammt von Dostojewskij, aber er hätte genauso gut von Camus sein können. Nicht für eine Hoffnung, nicht für eine Zukunft – für das Leben im Hier und Jetzt Verantwortung zu übernehmen, darum ging es ihm.
Es gibt noch eine Menge zu denken nach diesem beeindruckenden Abend.
https://www.thalia-theater.de/stueck/die-besessenen-2022
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
Die Frage nach der Haltung gegenüber der Welt:
- Bieten Ideologien (Anarchismus, Sozialismus, Religion u.ä.) Möglichkeiten?
Die Haltung gegenüber dem eigenen Leben
- Wann sind wir frei?
Formale Schwerpunkte
- Korrespondenz zwischen Wandgemälde und Figuren über Farbe und Licht
- Durchgängige Präsenz aller Figuren auf der Bühne während der gesamten Spiels
- Durchlässigkeit der Rollen (Musiker/ Figur im Stück)
- Aufhebung der Vierten Wand (Publikum als „Volk“)
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
- ab 17/18 Jahre, ab Klasse 12/13
- empfohlen für den Philosophie- und Theaterunterricht
Zum Inhalt
Der Inhalt des Stückes verhandelt vor allem unterschiedliche Positionen hinsichtlich der Haltung zur Welt. Auf der Handlungsebene geschieht im Wesentlichen Folgendes:
Nikolai Stawrogin kehrt zurück nach Petersburg in eine Gesellschaft aus Gottgläubigen, Anarchisten, Wahnsinnigen und Idealisten. Im Ausland hat er ein ausschweifendes Leben geführt und Taten begangen, die er vor sich und den anderen verbirgt. Seine kühle, scheinbar unbeteiligte Art, mit der er sich über alle Konventionen hinwegsetzt, fasziniert die anderen. Sie, die in unterschiedlichen ideologischen Vorstellungen festhängen, erhoffen sich von ihm eine mögliche Orientierung bei der Frage, wie sie der Welt begegnen. Pjotr, ein zynischer Anarchist, der sich als „Erlöser“ sieht und mit revolutionären Zellen den großen Umsturz erreichen will, will Stawrogin für sich gewinnen und schmiedet dafür sogar ein Mordkomplott. Dem sollen sich möglichst viele anschließen, denn, so hofft er, dadurch würde eine Gemeinschaft entstehen und gestärkt. Das Komplott richtet sich gegen Marja und ihren Bruder Lebdakin. Stawrogin hatte die geistig verwirrte Marja aus einer Laune heraus geheiratet, aber er, der zu keinem Gefühl in der Lage zu sein glaubt, liebt sie natürlich nicht. Um die Ehe zu beenden und auch ihren Bruder, der Geld von Stawrogin veruntreut hat, zu beseitigen, schlägt Pjotr vor, beide ermorden zu lassen. Dann wäre Stawrogin frei, könnte Lisa heiraten und sich dem Aufbau der revolutionären Zellen widmen. Die Tat gelingt, aber Stawrogin, der sich zuvor seiner Vergangenheit gestellt und seine Taten im Ausland gebeichtet hat, folgt Pjotr nicht. Er geht fort.
Mögliche VorbereitungeN
Als Hausaufgabe oder in Gruppenarbeit:
- Inhaltsangabe zu Dostojewskijs Roman „Dämonen“
- Grundzüge der Philosophie von Albert Camus:
- Das Absurde
- Menschliche Solidarität
- Der Mensch in der Revolte
- Camus’ politische Haltung
Speziell für den Theaterunterricht
Auf der begrenzten Vorbühne befinden sich zehn Schauspieler*innen gleichzeitig. Jede*r von ihnen hat einen quadratischen Holzkasten dabei, der unterschiedlich eingesetzt wird.
Um die spielerische Möglichkeiten zu erproben, bieten sich folgende Übungen an:
Drei Ebenen (Vorübung)
Vier Personen (A;B;C;D) werden aus der Gruppe herausgenommen, der Rest ist Publikum. A, B, C betreten die Bühne und nehmen jeweils eine unterschiedliche Ebene ein (untere Ebene 1, z.B. liegend; mittlere Ebene 2, z.B. kniend, sitzend; höhere Ebene 3, z.B. stehend, gehend). Wenn D dazukommt und selbst eine Ebene (z.B. die mittlere) einnimmt, muss derjenige/diejenige, der die Ebene davor innehatte, eine andere einnehmen, usw. So entsteht eine ständige Bewegung.
Variation:
Die Figuren können während des Ebenenwechsels Kontakt zu einander aufnehmen.
Ziel: Es soll deutlich werden, dass unterschiedliche Ebenen eine Szene interessanter machen, als wenn alle die immer gleiche Ebene einnehmen.
Spiel mit Pappwürfeln
Die Gruppe wird geteilt (10 TN max.) und erhält entsprechend viel Papphocker. Aufgabe ist es, eine kurze Szene – auch ohne Worte – zu gestalten, in der die Papphocker in mindestens fünf verschiedenen Funktionen genutzt werden.
In der Inszenierung werden bestimmte Ideen choreografisch umgesetzt, Vorbereitend dazu bietet sich folgende Übung an:
Track-Working
Alle Spieler*innen malen einzeln 15 Symbole zu einem gewählten Begriff (z.B.„Krieg“) auf ein Stück Papier. Die Zeichen dürfen sich auch wiederholen.
Danach werden Gruppen zu sieben oder acht gebildet. In der Gruppe einigt man sich auf eine Zeichenfolge von 10 (mindestens aber sieben) Zeichen, die wie eine Hitliste hintereinander notiert werden.
Die Gruppe entwickelt entsprechend der „Hitliste“ eine Bewegungsabfolge, die sie synchron ausführt und bei der sie langsam bis an den Bühnenrand geht (Bewegung – Schritt – Bewegung usw. Auf Genauigkeit achten!).
Die Gruppe sucht sich dazu eine Musik und probt die Bewegungsabfolge noch einmal mit Musik.