Der Kirschgarten

Nicht der Mensch, die Natur spielt die Hauptrolle in Katie Mitchells radikaler Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus.

Schauspielensemble, Musiker und Videos in „Der Kirschgarten“ – Foto: Stephen Cummiskey

DIE KRITIK

Eines gleich vorweg: Wer Schauspielertheater und aufwändige Bühnenbilder in dieser Inszenierung erwartet, sollte sich den Kauf einer Karte überlegen. Oder sich lieber doch ein Ticket besorgen und dann mit offenen Augen und Ohren in die durchdachte und formal radikale Vorstellung gehen. Dauert ja schließlich nur 90 Minuten, da kann man sich schon mal auf etwas Neues einlassen. Das verlässlich zum Inventar deutscher Spielpläne gehörende Stück von Anton Čechov erzählt Katie Mitchell neu. Sie kürzt nicht nur die Original-Dialoge auf ein Minimum und ergänzt sie ab und an durch Texte des 44jährigen britischen Dramatikers Dawn King; sie lässt sie teilweise technisch so sehr dimmen, dass sie wirken, als wären sie unter Wasser aufgenommen und nur noch Geräusche, aber keine verständlichen Worte mehr. Grund dafür ist, dass der Mensch in dieser Inszenierung zweitrangig ist. Viel wichtiger ist die Natur und das, was der Mensch mit ihr anstellt.

Mitchell hat Čechov beim Wort genommen

Mitchell hat sich jahrelang mit dem Gedanken an eine Umsetzung des „Kirschgarten“ getragen und Čechov beim Wort genommen, der laut Programmheft bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts feststellte: „Die Wälder werden immer weniger, die Flüsse trocknen aus, die Tiere sterben, das Klima verschlechtert sich, und mit jedem Tag wird die Erde ärmer und hässlicher.“

Mitchell gibt der Natur Raum.  Alex Eales hat ihr dafür eine in vier Bereiche gegliederte Bühne gebaut. Rechts und links finden sich zwei studioähnliche verglaste Räume. In dem rechten sorgt ein – übrigens fantastisches – Streichquartett für neuzeitliche, sperrige Klänge. Links steht das elfköpfige, schwarz gewandete Ensemble. Es spricht die Dialoge und untermalt die Szenerie mit Geräuschen. Ab und zu treten einzelne Ensemblemitglieder vor einen Greenscreen in der Mitte der Bühne, um vor einer Live-Kamera (Severin Renke) Handlungen aus dem Stück zu illustrieren. Man sieht sie dann  plötzlich auf einer über die gesamte Bühne gespannten Leinwand mitten in einem Garten, vor einem Gutshaus oder am Ende auf der Obstplantage mit Kettensägen. Überwiegend ist aber diese Leinwand Bildern und Videos aus der Natur vorbehalten: Nahaufnahmen von Blüten, einem glühenden Sonnenball, dem Auge einer Eule. Und der Natur ist es piepegal, was die Menschen da unten reden. Ihr Verhalten werden sie sowieso nicht ändern. Denn darum geht es schließlich auch bei Čechov:  Der legendäre Kirschgarten einer Gutsbesitzerin, die leichtsinnig ihr Geld verballert und sich nicht um den Erhalt ihres Besitzes gekümmert hat, wird notgedrungen an ihren Verwalter verkauft. Der aber hat nichts Eiligeres zu tun, als die Bäume abzuholzen und – in Mitchells Version – auf dem Land gewinnbringend Sommerhäuser zu bauen. 

Ein Hoffnungsschimmer, eine Utopie vielleicht

Mitchell hat die vier Akte des Originals den vier Jahreszeiten zugeordnet. Diese spiegeln vor allem die  unaufhaltsame Zerstörung von Frühling bis Winter wider, von blühenden Kirschblüten hin zu den Männern mit Kettensägen. Wenig optimistisch endet „Der Kirschgarten“ bei Čechov mit dem Verkauf des Gartens, ohne den sich die Gutsbesitzerin angeblich ihr Leben nicht vorstellen kann. Katie Mitchell gibt sich damit nicht zufrieden. Sie spult die Zeit zurück. Führt uns das Geschehen in Zeitraffer und Zeitlupe im Rückwärtsgang noch einmal vor Augen. Das ist großartig choreografiert, gerät jedoch insgesamt etwas zu ausführlich. Dennoch: Am Ende zeigt die Leinwand wieder Kirschblüten und Bienen – ein Hoffnungsschimmer, eine Utopie vielleicht am Ende dieses mutigen und polarisierenden Abends.

https://schauspielhaus.de/stücke/der-kirschgarten

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Die Natur als Opfer des Menschen
  • Die mögliche Stärke der Natur
Formale Schwerpunkte
  • Videos und Live-Aufnahmen vor Greenscreen
  • Untermalung der Videos durch Geräusche  und ausgewählte Dialoge
  • Zurückspulen der Szenen  
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
  • ab 15/ 16 Jahre; Jahrgangsstufe 10
  • geeignet für Deutsch-, Biologie-, Wipo- und Theaterunterricht
Zum Inhalt

Die verkürzte Version von Čechovs Original konzentriert sich auf die Darstellung der Natur, ihrer Schönheit und ihrer Gefährdung durch den Menschen. Die vom Schauspielensemble gesprochenen Texte erzählen davon, dass der allseits berühmte, sogar mit einem Wikipedia-Eintrag versehene Kirschgarten verkauft werden muss, weil die Gutsbesitzerin ihn nicht mehr unterhalten kann. Der neue Besitzer, geschäftstüchtig und profitorientiert, lässt die Bäume abholzen um Bauland für neue Sommerhäuser zu gewinnen. Ein Zurückspulen der Szenen ermöglicht ein Überdenken der Handlung.

Mögliche VorbereitungeN

Über Referate oder Gruppenarbeit

Vorbereitungen zum Thema Ausbeutung der Natur:
  • Welche Konsequenzen hat die Abholzung von Wäldern?
  • Welche Möglichkeiten hat die heutige Gesellschaft, die Natur zu erhalten und den Lebensstandard zu wahren? 
… zu Anton Čechov:
  • Biografie zu Anton Čechov
  • Čechovs Verhältnis zur Natur

Speziell für den Theaterunterricht

Einsatz von Videos

Szenen, an denen gerade gearbeitet wird, durch Einsatz von Live-Kameras oder Videos ergänzen.

Übungen zu Zeitlupe/Zeitraffer

Raumlauf, Spielleitung gibt verschiedene Tempi von 0 = Freeze, über 1 = Zeitlupe bis 5 = Zeitraffer)

  • In Dreiergruppen einen Bewegungsablauf von fünf bis sechs Einzelbewegungen  (z.B.: aufstehen, imaginäre Tasse nehmen, etwas aus imaginärer Kanne eingießen, Kanne hinstellen, sich hinsetzen, trinken)  erstellen.
  • Diesen in den Tempi 1 bis 5 durchproben, dabei auf exakte Durchführung achten. Dann diese fünf Bewegungen rückwärts ausführen (z.B. zuerst trinken,….) 
  • Verschiedene Tempi ausprobieren; auf Wirkung achten.
Übungen zum Sprechen

Die Gruppe stellt sich im Kreis auf, Spielleitung gibt vor:

  • extremes Grimassieren
  • mit der Zunge jeden einzelnen Zahn putzen
  • Vokale a – e- i- o – u extrem deutlich im Chor sprechen
  • Einen ausgewählten Satz (z.B.: Ich trinke gerne Kaffee) zunächst in mittlerem Tempo 3 deutlich sprechen (evtl. nacheinander oder chorisch), dann extrem verlangsamt (Tempo 1) dann extrem schnell (5) sprechen.
  • Wirkung beachten