Schon klar, die Gefährlichsten sind die, die sich anschleimen, buckeln und die Wahrheit verdrehen. So kommen sie an Machtpositionen. Den genauen Weg dahin hat Heinrich Mann schon 1914 in seinem Roman „Der Untertan“ beschrieben. In ihrer konzentrierten Bühnenfassung am Altonaer Theater zeigt Regisseurin Karin Drechsel, dass sich seit mehr als hundert Jahren nichts geändert hat, und ruft zum Handeln auf.

Die Kritik
Sie kommen aus dem Publikum: in schwarzem Frack, schwarzen Kniehosen, Zylinder und dem typisch nach oben gezwirbelten Schurrbart. Die sechs Schauspieler:innen (Len Bartens, Marlon Hangmann, Ben Daniel Jöhnk, Kathrin Ost, Anne Schieber, Miriam Schiweck) reihen sich vor dem Eisernen Vorhang auf und stellen sich nacheinander als Diederich Heßling vor. Damit ist die Setzung von Karin Drechsels Bühnenfassung von Heinrich Manns Roman „Der Untertan“ deutlich. Einer wie Heßling war und ist kein Einzelner, er ist vielmehr ein Prototyp. Wie ihn gibt es viele und sie sind gefährlich. Drechsel hat den gut 500 Seiten langen Roman auf schlanke zwei Stunden (inklusive Pause) eingedampft und zusammen mit dem sechsköpfigen Ensemble eine frische Inszenierung entwickelt. Donnerschläge (oder Kanonenschläge?) lassen die Frack-Träger:innen zusammenzucken, ihre Worte werden vom Lärm verschluckt, ihre stramm synchronischen Gesten zerfallen und die Bühne wird sichtbar. Die hat Christine Grimm (auch verantwortlich für die Kostüme) in eine Turnhalle mit Reck, Kasten, Matten, Seilen und Bänken verwandelt. Möglicherweise ein Hinweis auf Turnvater Jahn, der im frühen zwanzigsten Jahrhundert junge Menschen nicht nur sportlich ertüchtigen, sondern sie gleichzeitig auch national und patriotisch erziehen wollte. Das Turnhallen-Inventar eignet sich zur Darstellung unterschiedlicher Orte, wenn Pfiffe aus der Trillerpfeife einen Szenenwechsel ankündigen.
Der umgebundene Theaterbauch ist sein Zeichen.
Zu Beginn nämlich sehen wir Diederich als Kind auf den Matten liegen und lesen. Der umgebundene Theaterbauch ist sein Zeichen, es wechselt von einem Schauspieler/einer Schauspielerin zur nächsten, die Allgemeingültigkeit dieses Charakters bleibt also gewahrt.„Diederich Heßling war ein weiches Kind.“ Von der Seite aus leitet der Rest des Ensembles ein in die Welt des Protagonisten, beschreibt ihn, ganz bei Heinrich Mann, als schwach, weinerlich und feige. Die Erzählpartien, teilweise chorisch, teilweise im Wechsel gesprochen, werden durch szenisches Spiel illustriert. Das wirkt zunächst wie eine unnötige Doppelung, entpuppt sich aber zunehmend als sinnvolle Karikierung von Diederichs Weg an die Macht: Gemeinsam mit der Mutter stopft er sich fäusteweise Süßigkeiten in den Mund, droht sie aber dann an den Vater zu verraten. Oder: Als feiger, unsportlicher Student schleimt er sich ein in die Burschenschaft, indem er mit den anderen literweise Bier in sich hineinkippt. Saufen bis zum Umfallen. Die Begegnung mit dem Kaiser, Schlüsselszene für Diederichs weiteren Werdegang, zeigt auf der hinteren Leinwand eine überlebensgroße, sich drehende Figur Kaiser Wilhelm II (Video: Brigitta Jahn) und einen von der Turnbank fallenden Diederich, der sein „Hurra!“ stumm und ehrfürchtig formt. Aus dem Off erklingt ein immer lauter werdendes Lachen.
„Stürmt das Kapitol!“
Diederich als Fahnen schwenkender, die Sozialisten verteufelnder Nationalist – sein Aufstieg scheint unaufhaltsam. Konsequent fordert das Ensemble den Schluss mit diesem „inklusive Wohlfühl-wir-sind-alle-mal-Diederich-Heßling-Bauch-Theater“. „Stürmt das Kapitol!“, rufen sie. „Schmeißt die parteiischen Richter raus!“, ein unmissverständlicher Link zur Gegenwart. Im Hintergrund verwandelt sich der Kopf des Kaisers in Konterfeis aktueller Autokraten von Trump über Putin bis zu Orban. „Diese Menschen sind gefährlich“, singt jetzt das Ensemble vorne an der Rampe ins Mikrofon, „denn sie wissen, was sie tun.“
Dieser Schluss und ein paar andere Ideen mögen manchen Zuschauer:innen zu didaktisch erscheinen. Geschenkt. In Zeiten, in denen vor allem junge Menschen unkritisch den Lautesten hinterherlaufen, kann man manchmal gar nicht didaktisch genug sein.
Weitere Informationen unter: https://www.altonaer-theater.de/programm/der-untertan/
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
Der Weg zur Macht durch
- Unterwerfung
- Denunziation
- Verdrehen und Kaschieren von Wahrheiten
Formale SchwerpunKte
- Aufteilen der Figur auf das gesamte Ensemble
- Chorisches Sprechen
- Synchrones Spiel
- Illustrieren von Erzählpassagen durch szenisches, karikierendes Spiel
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
- Ab 14/15 Jahre, ab Klasse 9
- Empfohlen für den Deutsch-, Geschichts- und Theaterunterricht
Zum Inhalt
Die auf Kernpunkte reduzierte Bühnenfassung von Karin Drechsel zeigt Diederich Heßling in seiner Kindheit und Jugend als weichen, unsportlichen und mäßig begabten Jungen, der allein durch Drohungen und Denunziationen weiterkommt. Seine Faszination für die im Kaiser zur Person gewordene Macht und sein Hass auf die Sozialisten nutzt er für seinen weiteren Aufstieg und wird damit zum Prototypen für aktuelle Autokraten.
Mögliche Vorbereitungen
Recherche zu:
- Heinrich Mann: Der Untertan (Inhaltsangabe)
- Die deutsche Gesellschaft im Kaiserreich von 1871 – 1918
- Aufstieg des Nationalsozialismus
- Erstarken rechtsradikaler Parteien in Deutschland und Europa
Speziell für den Theaterunterricht
Übungen zur Gruppenwahrnehmung
- Horizontblicke: Alle Schüler:innen stehen im Kreis. Auf dem Boden liegen 24 Seile. Alle blicken neutral geradeaus. Auf Impuls aus der Gruppe heben alle gleichzeitig das Seil auf. (evtl. mehrfach wdh.)
- Stopp and Go: Alle verteilen sich im Raum, gehen neutral, als wenn ein Faden durch den Körper geht und oben an der Decke befestigt ist, wechseln die Richtung, achten auf gleichmäßiges Ausfüllen des Raumes (keine Lücken, keine Ballungen). Wenn ein:e Spieler:in stehen bleibt, bleibt Gruppe stehen, geht ein:e Spieler:in weiter, gehen alle weiter.
- Variante 1: neutrales Gehen, langsam steigern (Impuls kommt aus Gruppe) bis Tempo 10, dann wieder verlangsamen. ZEIT LASSEN!
- Variante 2: Alle verteilen sich im Raum, nur ein.e Spieler:in geht, wenn er/sie freezt, geht ein anderer/ eine andere los. Wenn zwei gleichzeitig gehen, noch mal von vorne.
Übungen zur Gruppenbewegung:
- Gruppe bildet eine Reihe (3-4 Zuschauer:innen), findet eine gemeinsame Gangart und einen gemeinsamen Impuls
- Gruppe als Pulk: schaut gemeinsam in synchroner Bewegung a) Tennis, b) Drahtseilakt, c) fantastischer Flugschau zu
- Gruppe ( 2 x 10 Leute) sitzt einander gegenüber. Gemeinsame Grundposition, langsam aufstehen, drei Schritte, Sprung HA!, halbe Drehung, Sprung: „HA!“, rückwärts zurück auf Stuhl, einsinken.
Umsetzung der Übungen
Aufteilung des Kurses in (je nach Anzahl der Teilnehmer:innen) zwei oder drei Dreier- bzw Vierergruppen und mehrere Zweiergruppen
Aufgabe:
Für Dreier- bzw Vierergruppen:
Alle sitzen auf Stühlen/ Würfeln frontal zum Publikum, Blick nach vorne, neutraler Gesichtsausdruck, aufrecht, Hände auf Oberschenkeln. Überlegt euch eine Bewegungsabfolge, (ca 10 Bewegungen), die synchron ausgeführt werden muss. Achtet auf Impulse, variiert das Tempo!
Für Zweiergruppen:
Überlegt euch zu zweit eine Bewegungsabfolge zu einem gemeinsamen Thema (z.B. unangenehmer Anruf ; Zuschauen eines Fußballspiels o.ä,), das später alle sechs Paare vorführen. Jedes Paar legt seine Bewegungsabfolge fest und probt sie, so dass die Bewegungen synchron sind. KEIN TEXT! Falls ihr noch Zeit habt, versucht eine Szene zu bauen, in der alle Paare integriert sind.
Präsentation und Feedback