Eine ungewollte Schwangerschaft in den frühen 60er Jahren und die verzweifelte Suche nach einer Möglichkeit abzutreiben – Regisseurin Annalisa Engheben hat Annie Ernaux’ drastische Erzählung kongenial umgesetzt.
Die Kritik
Ein Abend wie ein Schlag in die Magengrube. Keine Möglichkeit auszuweichen. Es ist die Unmittelbarkeit der Darstellung, die Schutzlosigkeit des Publikums, die Wucht des Textes, die der 80minütigen Inszenierung im Rangfoyer des Schauspielhauses diese Direktheit verleihen. Regisseurin Annalisa Engheben hat „Das Ereignis“ der frisch gekürten Nobelpreisträgerin Annie Ernaux zusammen mit Dramaturgin Finnja Denkewitz für das Theater adaptiert, ihre Fassung behält die Schnörkellosigkeit des Originals bei, die Inszenierung setzt dies auf allen Ebenen um.
Rund um die Bühne im Rangfoyer sitzt das Publikum in einer einzigen Reihe. Nur ca 35 Plätze stehen zur Verfügung, man sitzt dicht an dicht und direkt am Geschehen. Die Bühnenmitte dominiert eine Plastik aus ineinander verschlungenen Frauenbeinen und -armen (Bühne: Sanghwa Park). Die Schauspielerinnen können darauf herum klettern, balancieren, sitzen oder durch die sie hindurch kriechen. Zu jedem Zeitpunkt der Handlung löst das unterschiedliche Assoziationen aus: die Unsicherheit der Erzählerin, ihre Schutzsuche, ihre Standhaftigkeit, mit der sie ihren Entschluss durchsetzen will.
„Das Ding muss weg“
Drei Schauspielerinnen, Sandra Gerling, Josefine Israel und Sasha Rau, teilen sich die Rolle der Ich-Erzählerin: Da ist die der schreibenden Autorin im Jahr 2000, die über Gegenstände wie eine Haarbürste wieder an das traumatische Erlebnis erinnert wird, und da ist die der Studentin von 1963, die das Ereignis erlebt.
Ernaux beruft sich in dieser Erzählung auch hier auf ihre persönliche Geschichte. Seit ihrem Durchbruch mit dem Roman „Die Jahre“ hat dieser als autofiktional bezeichnete Schreibstil eine ganze Generation junger Schriftsteller:innen beeinflusst. „Das Ereignis“ gehört dabei wohl zu den prägendsten Situationen in Ernaux’ Leben. Als junge Frau aus ärmlichen Verhältnissen schafft sie es 1963 aus der nordfranzösischen Provinz an die Universität nach Rouen. Das Studium ist für sie das Ticket zum sozialen Aufstieg. Doch dann wird sie schwanger und ihr Ziel unerreichbar. In den 60er Jahren ist eine Abtreibung strafbar, Annies eigene Versuche scheitern, aber „das Ding muss weg!“. Erst eine alte „Engelmacherin“ in Paris kann in der 12. Schwangerschaftswoche gerade noch rechtzeitig helfen.
Das Erzählte ist kaum auszuhalten
Während Sandra Gerling häufig die harte, entschlossene Seite der Erzählerin übernimmt, zeigt Sasha Rau eher die empfindliche, Josefine Israel oft deren verzweifelt-zornige Seite. Häufig treten sie dabei vor die Sitzreihe und sehen den Zuschauer:innen direkt in die Augen. Ein Ausweichen vor Annies Lage ist unmöglich.
Blaue Wollknäuel werden zum Zeichen ihrer Stimmung: als Wurfgeschosse gegen die Plastik für ihre Wut, unter dem Kostüm für die empfundene Deformation, um die Plastik herumgewickelt für die Ausweglosigkeit. Es gibt kein Pathos in diesem Text. Seine klare Sprache trifft direkt, des Erzählte ist kaum auszuhalten, zwingt aber zum Hinschauen und Zuhören. Ein wichtiger, ein gelungener Abend.
https://schauspielhaus.de/stücke/das-ereignis
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- Schwangerschaft als Hinderung am sozialen Aufstieg in den 60er Jahren
- Konsequenzen des Abtreibungsverbots
- Anlass für den Schreibprozess im Jahr 2000
- Notwendigkeit des Schreibens
Formale Schwerpunkte
- Arena-Bühne
- Figurensplitting
- Einsatz von multifunktionalenRequisiten
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
- ab 16/17 Jahre/ Jahrgangsstufe 11/12
- geeignet für den Deutsch-, Französisch,- WiPo- und Theaterunterricht
Zum Inhalt
Frankreich 1963. Die Studentin Annie kommt aus ärmlichen Verhältnissen in der französischen Provinz. Als einzige in der Familie schafft sie es aufs Gymnasium und auf die Universität. Sie geht in die Stadt, mit dem Studium scheint der soziale Aufstieg möglich. Doch dann wird sie ungewollt schwanger. Ein Baby in ihrer Situation würde all ihre Möglichkeiten zunichte machen. Sie würde wieder in die alte soziale Klasse zurückfallen. Sie beschließt, das Kind abzutreiben, scheitert aber an dem rigiden Abtreibungsgesetz. Sogar die öffentliche Nennung des Begriffs „Abtreibung“ steht, laut Aussage eines Arztes, unter Strafe . Annie versucht es alleine und greift dabei auf so drastische Mittel wie Seifenlauge oder Stricknadeln zurück – alles ohne Erfolg. Schließlich bekommt sie die Adresse einer alten „Engelmacherin“ in Paris, die ihr gerade noch rechtzeitig in der 12. Schwangerschaftswoche helfen kann. Annie gebiert den Fötus im Studentenwohnheim und entsorgt ihn. Nach einer anschließenden Komplikation wird im Krankenhaus eine Ausschabung gemacht. Wider besseren Wissens sprechen die Ärzte von einer „Fehlgeburt“.
Die Erzählung wird immer wieder unterbrochen durch die Situation des Schreibprozesses im Jahr 2000. Ernaux’ Erinnerungen an dieses für sie so prägende Ereignis, ausgelöst durch Gegenstände, Chansons oder Straßen, verfolgen sie, diese zu notieren erscheint ihr als Notwendigkeit. Ihre damalige Situation steht stellvertretend für die vieler Frauen aus prekären Verhältnissen zu dieser Zeit.
Mögliche Vorbereitungen
- Referat oder Lehrer:innenvortrag über die Gesellschaft der 60er Jahre
- Referat oder Lehrer:innenvortrag über die Situation der Frau (ungewollte Schwangerschaft; „uneheliche“ Kinder – Abtreibungsgesetz und dessen Konsequenzen)
- Wer ist Annie Ernaux? Referat zur Biografie oder Filmbeitrag bei ARTE
- Bedeutung Annie Ernaux’ für die Literatur
- Lektüre von „Das Ereignis“
Speziell für den Theaterunterricht
VORSCHLÄGE FÜR ÜBUNGEN
Übung 1
Gegenstände mit dem Körper darstellen
Raumlauf zur Musik, Lehrkraft stoppt Musik, gibt folgende Anweisungen: Stellt mit eurem Körper einen Baum, ein Haus, ein Auto, eine Fahne, eine Tasse dar. Nach jedem Bild wird aufgelöst, Musik gespielt und bei Stop eine neue Anweisung gegeben.
Variation: in Zweiergruppen: eine Kirche, eine Uhr, ein Thron darstellen.
Requisit als Metapher/ Zeichen
Alle sitzen im Kreis, in der Mitte liegt ein Tuch. Jede:r, der/ dem etwas einfällt, benutzt dieses Tuch (Baby, Tischdecke usw.)
Kurze Reflexion: Welche Vorteile hat die Verwendung eines Requisits in dieser Form?