Das Model auf dem Plakat, die Stimme aus dem Lautsprecher, die Bilder auf dem Monitor – ist das jetzt echt oder von einer KI generiert? Die hat die Welt, wie wir sie kennen, ja gründlich verändert und sie wirft Fragen auf: Welche Möglichkeiten hat sie? Wo sind ihre Grenzen? Was genau definiert den Menschen? Zu Paul Glasers spannender Inszenierung von Lauren Gundersons „Anthropology“ am Hamburger English Theatre.

Die Kritik
Alles ganz real hier: das Wohnzimmer mit der Couchecke, der beeindruckende Monitor, der Schreibtisch mit Computer und dem aufgestellten Foto eines kleinen Mädchens (Bühne: Matthias Wardeck). Unruhig tigert Merril (Carolyn Maitland) durch den Raum, tippt nervös etwas in die Tastatur. „Hey, what’s up asshole?“, tönt es plötzlich aus dem Rechner. Merril erschrickt. Es ist die Stimme ihrer seit einem Jahr auf nicht geklärte Weise verschwundenen Schwester Angie. Merril ist der festen Überzeugung, dass Angie tot ist, und hat versucht irgendwie, mit dem Verlust klarzukommen. Als ausgebildete Programmiererin weiß sie, dass man mit den Spuren, die ein Mensch in den sozialen Medien hinterlässt, und mit zusätzlichen Informationen eine Art Replikanten erschaffen kann. Einen künstlichen Menschen, der dem echten verdammt ähnlich ist. So ist es jetzt auch mit dieser Stimme, die sie gerade begrüßt hat. Sie gleicht in Tonfall, Ausdrucksweise, ja in der ganzen Art der Stimme ihrer Schwester. Wenig später erscheint Angie (Emma Langmaid) auch auf dem Monitor und redet mit Merril, als wäre sie lebendig. Selbst für einen Profi wie Merril verschwimmen spätestens jetzt die Grenzen zwischen Realität und Fake, zumal dieses Wesen auf dem Bildschirm behauptet, Angie und durchaus nicht tot zu sein.
Unheimlich oder besser: unerklärlich wird es, als Angie sich in ihr reales leben einzumischen beginnt.
Mit „Anthropology“ greift die amerikanische Dramatikerin Lauren Gunderson ein aktuelles Thema auf. Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz erweist sich hier als Fluch und Segen zugleich, hält doch die künstlich erschaffene Angie erst einmal Merril psychisch über Wasser. Unheimlich oder besser: unerklärlich wird es für sie, als Angie sich in ihr tatsächliches, also reales Leben einzumischen beginnt: Sie führt eine Begegnung mit ihrer Ex-Partnerin Raquel (Rachel Morris) herbei und schafft es sogar, dass Merril sich wieder mit ihrer Mutter Brin (Catherine McDonough) trifft. Die hatte ein Drogenproblem, was offenbar in irgendeinem Zusammenhang mit Angie Verschwinden steht. McDonoughs Brin ist eine chaotische, von Gefühlen geleitete Person, die Morris’ sachlicher, eher kühlen Rachel und vor allem Langmaids ewig gleichen Angie auf dem Bildschirm diametral entgegengesetzt ist. Dazwischen steht Maitlands Merril. Ihre professionelle Nüchternheit wird durchbrochen durch Schuldgefühle, denn sie redet sich ein, ihre Schwester nicht genug beschützt zu haben. Sie kaut an den Nägeln, trinkt zu viel und füttert dann doch wieder das Programm, um weitere wichtige Informationen über Angies Verbleib zu bekommen. Nach knapp zwei Stunden spannender, intelligenter Unterhaltung gibt es dann tatsächlich eine Lösung. Wer die wissen will, sollte unbedingt ins English Theatre gehen.
Weitere Informationen unter: https://eth-hamburg.de/2024/05/22/anthropology/
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Eine ausführliche Beschreibung des Inhalts sowie Fragen dazu finden sich im Study Guide unter https://eth-hamburg.de/wp-content/uploads/2025/04/Study-Guide_Anthropology.pdf
Inhaltliche Schwerpunkte
- Möglichkeiten und grenzen der Künstlichen Intelligenz
- Verantwortung des Menschen in Bezug auf KI
Formale SchwerpunKte
- realistische Spielweise in realistischem Bühnenbild
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
ab 15/16 Jahre, ab Klasse 11
empfohlen für den Englischunterricht
Zum Inhalt
s. Study Guide