550 km sind eine lange Strecke. Vor allem wenn sie auf der Flucht vor der Roten Armee zu Fuß zurückgelegt wird. Das Fluchttrauma ihres verstorbenen Vaters und dessen Auswirkungen auf die nachfolgenden Generationen beschäftigten die langjährige Auslandskorrespondentin und stellvertretende Regierungssprecherin Christiane Hoffmann. 2020 machte sie sich deshalb noch einmal auf den Weg von Rosenthal, dem heutigen Różyna, nach Wedel bei Hamburg und verfasste darüber das Buch „Alles, was wir nicht erinnern“. Auf dessen Grundlage und in Zusammenarbeit mit dem polnischen Autor Jaroslaw Murawski hat Regisseur Gernot Grünewald ein deutsch-polnisches Thaeterprojekt entwickelt und im Thalia in der Gaußstraße uraufgeführt.
Die Kritik
Der Vater hat nicht darüber geredet. Als Neunjähriger flieht er mit dem Treck seines Dorfes Rosenthal, dem heutigen Różyna, vor der Roten Armee in Richtung Westen. Zu Fuß. Bis die Familie schließlich in Wedel bei Hamburg eine neue Heimat findet. Aber Heimat? Kann man das so sagen? „Was ist das für Sie, Heimat?“, fragt die Schauspielerin Oda Thormeyer ein paar Zuschauer im Thalia in der Gaußstraße. Die Antworten ähneln einander: „Wo Familie und Freunde sind.“ „Wo man verwurzelt ist.“
Auf der die Bühne im Halbrund umspannenden Projektionsfläche steht zu lesen, dass jeder Dritte in Schleswig-Holstein persönliche Erfahrungen mit Heimatverlust, Vertreibung oder Flucht hat. Am Ende des Zweiten Weltkrieges betrifft das insgesamt mehr als zwölf Millionen Deutsche. Nackte Zahlen von damals, die sie heute verbinden mit dem Schicksal von Millionen Geflüchteter aus der Ukraine. Thormeyer bittet jetzt all diejenigen im Publikum aufzustehen, die selbst Fluchterfahrung haben. Dann die, deren Eltern es betrifft, zuletzt die, deren Großeltern geflohen sind. Schaut man sich um, steht mehr als die Hälfte des Zuschauerraums – und Flucht bekommt auf einmal ein Gesicht.
Die Situation auf dem Fluchtweg 2022 ist anders ohne die Bedrohung.
„Alles, was wir nicht erinnern“ ist ein Buch von Christiane Hoffmann. Impuls dafür war der Tod ihres Vaters und dessen fehlende Erinnerung an die Flucht. Beschrieben werden die Beschäftigung mit dem zurückgelassenen Heimatort und die Auswirkungen des Fluchttraumas auf die nachfolgende Generation. Um das alles besser zu verstehen, ist Hoffmann den gesamten Fluchtweg noch einmal selbst gegangen. Die Situation ist allerdings anders ohne die Bedrohung und die damit verbundene Angst im Nacken, die die Flüchtenden damals beherrschte.
Flucht, Vertreibung und Heimatverlust – das sind nach wie vor aktuelle Themen, fand auch Regisseur Gernot Grünewald. Zusammen mit dem polnischen Autor Jaroslaw Murawski konzipierte er auf der Basis des Buches ein deutsch-polnisches Theaterprojekt, das jetzt im Thalia in der Gaußstraße uraufgeführt worden ist. Dafür sind Grünwald, Murawski und Hoffmann im Februar 2024 noch einmal nach Różyna gefahren und haben Zeitzeugen und Nachfahren der 1945 aus der Westukraine vertriebenen polnischen Familien interviewt, die heute dort und in dem Haus der Familie Hoffmann leben. Deren Gesichter sind auf der Projektionsfläche ebenso zu sehen wie unterschiedliche Zitate zu Flucht, die Häuser in Różyna oder die Fluchtroute des Vaters (Videos: Jonas Plümke, Ramses Rienecker). Einspielungen von polnischen Original-Zitaten übersetzen vor allem die Schauspielerinnen Sandra Flubacher und Oda Thormeyer, letztere führt als Christiane durch den gut 100-minütiger Abend. Darin verweben sich aktuelle Reflexionen mit Gedanken zur Bedeutung des ehemalige Rosenthal für die Familie und zur Flucht. Ein drehbares Podest mit durchsichtiger Wand dient als Bühne (Michael Köpke) für die szenische Illustrierung der Erinnerungen mit Tim Porath (u.a. als Nazi-affiner Onkel Manfred) und Anna Maria Köllner (als Mutter oder als junge Christiane) sowie die deutsch-polnische Darsteller*innen (als Großeltern alternierend: Marek Kandel/Rolf Bach und Elisabeth Kalina/ Viola Krizak) und die Kinderdarsteller (Als das Kind Christiane alternierend: Mona Pehle/Linda Malten Kuric; als Christianes neunjähriger Vater alternierend: John Mattis Staschen(Jari Lohmeier/Jasper Lukas Radtke). Wie notwendig der häufige, von Umbauten geprägte Szenenwechsel ist, sei einmal dahingestellt. Eindringlich genug sind die im Hintergrund ablaufenden Filmsequenzen zusammen mit dem erzählten Bericht, den Zitaten und den auftretenden Fragen. „Gibt es einen Krieg, der alle Kriege beendet?“ und „Können wir irgendwann aus dem Leid unserer Vorfahren lernen?“ 2024 bei ihrem letzten Besuch in Różyna sieht Christiane Hoffmann, dass der Pfarrer deutsche Grabsteine hat restaurieren und eine Gedenktafel für die Deutschen errichten lassen hat. In dem jetzt von Polen bewohnten Haus der Hoffmanns erfährt sie, wie sorgsam die dort seit Jahrzehnten lebenden Bewohner damit umgehen und es in Ehren halten. Ein versöhnlicher Schluss, der Hoffnung macht.
Weitere Informationen unter: https://www.thalia-theater.de/stueck/alles-was-wir-nicht-erinnern-2024
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- Flucht, Vertreibung, Heimatverlust
- Auswirkungen des Fluchttraumas auf nachfolgende Generationen
- Bedeutung von Heimat
Formale SchwerpunKte
Dokumentarisches Theater:
- Verwendung von Filmen, Zitaten, Originaltexten über Projektionen und akustischen Einspielungen
- Nachstellen bestimmter Ereignisse in kurzen Szenen
- Einbeziehen des Publikums durch direkte Fragen zum Thema
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
- ab 15/16 Jahre, ab Klasse 10
- empfohlen für den Geschichts-, Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt
Die Familie der Autorin Christiane Hoffmann (langjährige Auslandskorrespondentin und stellvertretende Regierungssprecherin) stammt aus Rosenthal in Polen, dem heutigen Różyna. Am Ende des Zweiten Weltkriegs muss die Hoffmanns, darunter ihr neunjähriger Vater, und ein Treck aus dem Dorf vor der Roten Armee fliehen. 550 km zu Fuß legt die Familie zurück, bis sie in Wedel bei Hamburg eine neue Heimat findet. Allerdings bleibt dieser Begriff ständig mit einem Fragezeichen behaftet. Was bedeutet Heimat? Was bedeutet der neue Ort, an dem man ankommt? Der Vater spricht nicht über seine Fluchterfahrung, sein Trauma, und gerade deshalb beschäftigt es für die nachfolgende Generation. Nach dem Tod des Vaters besucht Christiane Hoffmann Różyna, allerdings hilft ihr das nicht für ein besseres Verständnis des Vaters. Deshalb macht sie sich 2020 noch einmal wie er auf die Route vom ehemaligen Rosenthal nach Wedel. 2024 kehrt sie mit dem Regisseur gernot Grünwald und dem polnischen Autor Jaroslaw Murawski sowie einem Filmteam dorthin zurück und interviewt Zeitzeugen sowie Menschen, die jetzt in den Häusern der Deutschen leben. So entsteht ein differenziertes Bild über Flucht und Vertreibung, über Heimatverlust, Sehnsucht und Versöhnung.
Mögliche Vorbereitungen
- Recherche zu Fluchtbewegungen am Ende des Zweiten Weltkriegs und heute (Ukraine)
- Recherche zu einzelnen Fluchtberichten
- Recherche zum Heimatbegriff
- Buchvorstellung von Christiane Hoffmann: „Alles, was wir nicht erinnern“ (YouTube; evtl. nur in Auszügen)
Als vorbereitende Hausaufgabe und/oder im Unterrichtsgespräch:
- Was bedeutet für mich Heimat?
- Gibt es einen Unterschied zwischen „Zuhause“ und „Heimat“?
- Wenn ich fliehen müsste, was würde ich mitnehmen?
- Was bedeutet es für mich, wenn ich mich für unabsehbare Zeit in einem Land einrichten muss, dessen Sprache und Kultur ich nicht kenne? Was fühle ich? Welche Möglichkeiten habe ich?
- Wie stehe ich denjenigen gegenüber, die in meinem Haus/meiner Wohnung leben, die ich verlassen musste? Suche ich später den Kontakt?
Speziell für den Theaterunterricht
Auf der Basis der Recherche und der Fragestellung (s.o.):
Einteilung des Kurses in Gruppen a sechs Personen
Aufgabe:
- Wählt zwei bis drei Zitate aus der Recherchearbeit aus.
- Erstellt je ein Standbild zu „Flucht“ und zu „Ankunft in einer ‚neuen‘ Heimat“.
- Überlegt, welche Zitate aus der Recherchearbeit ihr für das jeweilige Standbild auswählt und wie ihr diese präsentiert (als Video-Projektion, als Schild, eingesprochen aus dem Off, gesprochen von einer/einem das Bild ergänzenden Erzähler*in.)
Präsentation und Feedback