Wie umgehen mit dem Missbrauch? Im jüngsten Stück des Amerikaners Neil LaBute suchen drei Frauen nach einer finalen Antwort.
DIE KRITIK
Es war doch Cindys Idee. Sie hatte Paige und Carmen zu einem zweiten Treffen eingeladen. Und nun? Kommt sie erstmal zu spät und dann will sie auch noch aussteigen. Entschuldigt sich zwar bei den beiden anderen bis zum Wahnsinnigwerden, aber nein: Sie kann es einfach nicht tun.
Dieses „Es“ schwebt eine ganze Weile als etwas Mysteriöses, Unbekanntes über Neil LaButes „Die Antwort auf alles“. Julia Hölscher hat das jüngste Stück des amerikanischen Filmemachers und Dramatikers in knappen 80 Minuten mit drei famosen Schauspielerinnen auf die Bühne des St. Pauli Theaters gebracht. Ihre Inszenierung findet einen ausgewogenen Rhythmus zwischen schriller Hektik und lastendem Schweigen und baut damit die Spannung darauf auf, was denn das „Es“ bedeuten mag.
Das eigentliche Thema umkreisen sie
Offenbar treibt es die drei Frauen um. Es hält sie zusammen, trennt sie aber gleichermaßen. Deutlich wird das vor allem an der ersten Begegnung zwischen Carmen (Meriam Abbas) und Paige (Marie Schulte-Werning). Als Paige das Hotelzimmer betritt, herrscht eine beinahe eisige Distanz zwischen den beiden Frauen. Sie taxieren sich, jede auf ihrer Position im Raum. Dann aber umarmen sie einander plötzlich so, als wollten sie sich nie wieder aus der Umklammerung lösen. Bis sie wieder voneinander Abstand nehmen und höfliche Floskeln austauschen. Das eigentliche Thema umkreisen sie, versuchen ihm mit Halbsätzen näher zu kommen, um sofort wieder zurückzuschrecken. Das plüschige, rot ausgeleuchtete Hotelzimmer (Bühne: Paul Zoller, Philipp Eckle) bietet vordergründig Schutz, der die gesamte Zimmerdecke ausfüllende Spiegel lässt jedoch kein Verstecken zu. Alles und jede ist sichtbar.
Alle drei Frauen sind Opfer von Missbrauch
Schnell wird deutlich, dass Carmen als die Ältere gerne souverän erscheinen möchte. Alles, scheint sie ausdrücken zu wollen, alles ist ganz normal und sie, Carmen, hat alles im Griff. Diese Sicherheit vermittelt Paige nicht. Nervös turnt sie auf dem Hotelsessel herum, schnell verliert sie die Beherrschung. Als Cindy (Julia Nachtmann) schließlich erscheint, steigert sich die anfängliche Unruhe noch, denn Cindy, die manchmal wie ferngesteuert, manchmal vollkommen verzweifelt wirkt, will sich nicht an eine vor Jahren getroffene Abmachung halten und „es“ nicht tun. Allmählich wird deutlich, dass alle drei Frauen auf unterschiedliche Weise Opfer von Missbrauch geworden sind und sich dafür an den jeweiligen Männern rächen wollen. Nicht jede direkt, sondern durch eine andere an ihrer Stelle: Also Carmen an dem Täter von Paige, Paige an dem von Cindy und Cindy an dem von Carmen.
Ist es die Angst vor den Konsequenzen?
LaBute spielt mit dem Rachegedanken der Opfer, stellt ihn als die Antwort auf alles in den Raum, vielleicht sogar in Frage. Denn was die Frauen von ihren Erlebnissen erzählen, ist schlimm. Und weil kein Gericht in ihren Augen wirklich etwas ausrichten kann, ohne die Opfer durch Befragungen noch einmal zu quälen, nehmen sie die Sache selbst in die Hand. Aber was ist mit Cindy? Hat sie sich ihr Erlebnis nur ausgedacht und will deshalb nicht mehr mitmachen? Ist es die Angst vor den Konsequenzen der Tat? Oder halten sie moralische Bedenken zurück?
Das letzte Bild zeigt sie als Braut. Sie wickelt die beiden anderen in ihren Schleier, lächelt und drückt ihnen Blumensträuße in die Hand. Alles gut also? Den Kopf voller Fragen verlässt der Zuschauer das Theater.
https://www.st-pauli-theater.de/programm/die-antwort-auf-alles/
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- Umgang der Missbrauchopfer mit den Tätern
- Frage nach Vergeltung
Formale Schwerpunkte
- Umkreisen des zentralen Themas durch Sprache und Bewegungen
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
- ab 15/16 Jahre/ Jahrgangsstufe 10/11
- geeignet für den Deutsch-, Ethik- und Theaterunterricht
Zum Inhalt
Drei Frauen unterschiedlichen Alters treffen sich laut Verabredung in einem Hotelzimmer. Der Ort soll so neutral wie möglich sein, damit ihnen niemand auf die Schliche kommt. Carmen, Paige und Cindy sind alle Opfer von Missbrauch geworden. Alle drei meinen, dass Anzeigen und Gerichte ihnen keine Gerechtigkeit widerfahren lassen, zumal sie als Opfer vor Gericht wieder aussagen müssten und damit, dass sie die Tat beweisen müssten, erneut gedemütigt würden. Also hatten sie bei ihrem ersten Treffen bereits beschlossen, eigenständig für Vergeltung zu sorgen. Um mögliche Spuren zu verwischen, rächt sich Carmen an dem Täter von Paige, Paige an dem von Cindy, und Cindy soll sich an dem von Carmen rächen. Aber sie will nicht. Oder kann nicht – und stellt damit die Vergeltung als Antwort auf den Missbrauch in Frage.
Mögliche VorbereitungeN
Vorbereitete Diskussion zu folgenden Fragen:
- Wo beginnt Missbrauch?
- Welche Konsequenzen hat er für die Opfer?
- Wie kann Missbrauch nachgewiesen und bestraft werden? Welche Schwierigkeiten gibt es?
- Was bedeutet heute die „Me Too“-Debatte?
Speziell für den Theaterunterricht
Umgang mit Theaterkritiken
Im Unterrichtsgespräch sammeln: Was erwartet ihr von einer Theaterkritik? Kriterien notieren.
In Gruppenarbeit: Zwei unterschiedliche Kritiken zur „Die Antwort auf alles“ (oder einer anderen Inszenierung) untersuchen.
Aufgabe
1. Lest die Theaterkritik und markiert mit unterschiedlichen Farben
- Hintergrundinfos zu Regisseur, Bühnenbildnerin, Autor o.ä.
- Beschreibung der Inszenierung
- Deutung
- Bewertung
2. Tauscht euch in der Gruppe über eure Ergebnisse aus und fertigt eine Skizze an, aus der hervorgeht, wie hoch der Anteil der einzelnen Aspekte (a – d) ist.