Die Wut, die bleibt

Es funktioniert. Super gut sogar. Jorinde Dröses aus Hannover übernommene Inszenierung von „Die Wut, die bleibt“ nach dem Roman von Marieke Fallwickl löste auch bei der Hamburg-Premiere im Thalia Theater wahre Begeisterungsstürme aus. Eine zornige, fantastisch gespielte und rasant in Szene gesetzte Geschichte um die alltägliche, als selbstverständlich hingenommene Überforderung von Frauen.

Ensemble von „Die Wut, die bleibt“ – Foto: Kerstin Schomburg

Die Kritik

Sie steht ganz alleine vor ihrer Wohnung, als sie zurückdenkt an die Geburt ihrer Tochter Lola. An die „Urkraft“ der Wehen, an die Schmerzen und dann an die erste Berührung mit dem Neugeborenen. Helene (Johanna Bantzer) lächelt. „Ich werde nie von deiner Seite weichen, Lola. Ich verspreche es“, sagt sie zärtlich. Es ist das Jahr 2007, eingeblendet  an der Ecke eines kühlen, auf vier hohen Pfählen liegenden Rechtecks. Es zeigt – jeweils angezeigt – mal die Wohnung von Helene, mal die ihrer Freundin Sarah. Treppen auf der Vorder- und Rückseite führen zu einem offenen Raum, der als Sporthalle oder Straße dient (Bühne: Katja Haß). Helene steigt die Treppe hinauf, geht an die Rückseite ihrer Wohnung und springt.

Das ist der Beginn von „Die Wut, die bleibt“, nach dem Roman der österreichischen Autorin Mareike Fallwickl. Kurz nach der Pandemie erschienen, avancierte das Buch wegen seines radikalen Feminismus zum Bestseller. Die Bühnenfassung von Jorinde Dröse und Dramaturgin Johanna Vater wurde 2023 als Koproduktion mit den Salzburger Festspielen zunächst in Salzburg und dann in Hannover aufgeführt, wo es seither ständig für ein ausverkauftes Haus sorgt und nicht zuletzt deshalb von der neuen Intendanz mit nach Hamburg gebracht worden ist. Nach der wenig glücklichen Umsetzung von „Marschlande“, ebenfalls in der Regie von Jorinde Dröse, schien ein Erfolg nicht selbstverständlich. Aber es funktioniert. Die auf zwei Stunden konzentrierte Bühnenfassung wird einfallsreich und mit intelligenten ästhetischen Mitteln umgesetzt. Sie sprüht vor wütender Energie einerseits, gibt auf der anderen Seite aber auch Gegenpositionen Raum. Das Ensemble, allen voran Johanna Bantzer als Helene (aber auch in anderen Rollen), Anja Herden als Sarah und Nellie Fischer-Benson als Lola, ist eine Wucht, ebenso Jörg Kleemanns Musik und die starken Choreografien von Suzan Demircan. 

Kinderbetreuung, Wäsche waschen, einkaufen, putzen.

Worum geht es? Helene hat sich 2022 ohne erkennbaren Grund vom Balkon gestürzt. Sie hinterlässt zwei kleine Söhne, ihre fünfzehnjährige Tochter Lola und ihren Mann Johannes (Max Landgrebe). Der ist mit der Situation völlig überfordert, dafür springt Sarah, Helenes Freundin seit Kindertagen, ein. Sie vernachlässigt ihre ohnehin fragwürdige Beziehung zu Leon (Fabian Dott, alternierend: Tom Scherer) und übernimmt zunächst nur für ein paar Tage, letztlich aber für fast ein Jahr die Aufgaben, die wie selbstverständlich Müttern bzw Frauen zugedacht werden: Kinderbetreuung, Wäsche waschen, einkaufen, putzen. Anja Herdens Sarah macht das mit einer gewissen Nonchalance, es geht ja um die Familie ihrer Freundin. Wenn sie aber von einer Ecke zur anderen rennt und beschreibt, wie sie  gleichzeitig Kinderkotze aufwischen und ein aufgeschürftes Knie verarzten muss, während Johannes bei der Arbeit und nicht erreichbar ist, dann unterbricht sie  und wendet sich mit Statements wie „Mir ist die Absurdität der Szene total bewusst“, direkt ans Publikum. Ihr Verhalten bringt Lola auf die Palme. Nellie Fischer-Benson zeigt eine zutiefst verletzte, endlich aber radikalisierte Fünfzehnjährige. Anfangs noch verunsichert weint sie noch versteckt, wenn sie an „das letzte Mal“ denkt, dass Mama ihr das Schulbrot geschmiert oder den Kakao gekocht hat. Dann aber verwandelt sie ihre Trauer in Wut auf ein System, das Frauen wie ihre Mutter hat hängen lassen, das ihnen die gesamte Arbeit aufbürdet und ihnen obendrauf auch noch Stress macht mit von Männern geprägten Schönheitsidealen. Mit ihrer Freundin Sunny (Hanh Mai Thi Tran) sowie Alva (Gloria Odosi) und Femme (Sophie Casa), die sie im Kickbox-Studio kennenlernt, gründet sie eine weibliche Schlägertruppe. Jeder Junge, jeder Mann, der einer Frau etwas zuleide getan hat, wird von ihnen brutal zusammengeschlagen, was über lauten Rap (u.a. von Little Simz) und einer Choreografie aus angedeuteten Schlägen und Tritten eindrucksvoll umgesetzt wird. Begleitet wird die Geschichte durch den Geist von Helene. Johanna Bantzer gibt dieser Figur eine Gelassenheit, mit der sie aus der übergeordneten Sicht derjenigen, die das alles hinter sich hat, die Geschehnisse kommentieren kann. Dadurch kann sie zärtlicher, mitfühlender und verständnisvoller sein als im wirklichen Leben. Sie kann aber auch ironischer werden und andere Figuren überspitzt und mit sehr viel Witz darstellen.

Am Ende steht die Solidarität von Sarah und Lola mit ihrer Gang. „Was einer von uns geschieht, geschieht uns allen“, weiß Lola. Und obwohl Sarah nicht für die Selbstjustiz der Mädchengang  und die daraus entstehende „Gewaltspirale“ ist, kann sie deren Position in vielen Punkten Recht geben. 

Ein Abend wie ein Faustschlag. Großartig, provokativ und Stoff für notwendige Diskussionen zu Hause und in der Öffentlichkeit.

Weitere Informationen unter: https://www.thalia-theater.de/de/stuecke/die-wut-die-bleibt/190

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Die tradierte Rolle von Frauen und Mütter in unserer Gesellschaft und die damit einhergehende Belastung, Überforderung, Einsamkeit
  • Radikalisierung von Frauen gegenüber einem patriarchalen System
  • Solidarität von Frauen untereinander
Formale SchwerpunKte
  • Übernahme von Erzählpassagen durch wechselnde Figuren 
  • Choreografien zur Darstellung von Kampfszenen
  • Beiseitesprechen zur Darstellung von Gedanken/Gefühlen
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
  • Ab 15 Jahre/ ab Klasse 9
  • Empfohlen für den Deutsch-, PWG- und Theaterunterricht
Zum Inhalt

Ohne erkennbaren Grund ist Helene vom Balkon gesprungen. Sie hinterlässt die  fünfzehnjährige Lola aus einer früheren Beziehung und zwei kleine Söhne aus ihrer Ehe mit Johannes sowie ihre beste Freundin Sarah. Während Johannes mit der Situation völlig überfordert ist und sich in die Arbeit flüchtet, versuchen Lola und Johanna auf unterschiedliche Weise die neue Lage zu meistern und mit dem Verlust umzugehen: Sarah übernimmt Helenes Position in der Familie, indem sie die Kinder betreut, putzt und wäscht, Lola beginnt sich mehr und mehr in einer Mädchengang zu radikalisieren und gegen das patriarchale System auch mit Gewalt zu kämpfen.  

Mögliche Vorbereitungen

Mareike Fallwickl: Die Wut die bleibt (Lektüre oder Inhaltsangabe)

Zusatzmaterial mit Videos auch im digitalen Programmheft unter https://www.thalia-theater.de/de/stuecke/die-wut-die-bleibt/190/programmheft?tab=58

Recherche zu

  • Gleichstellung
  • Care-Arbeit, Gender Care-Gap
  • Mütter in Berufen
  • Doppelbelastung von Frauen/Müttern
  • Sexuelle Gewalt gegenüber Frauen
  • Druck durch Schönheitsideale

 

Im Unterrichtsgespräch:
  • Auswertung der Recherche
  • Welche Möglichkeiten seht ihr für eine Verbesserung der (jeweiligen) Situation?
  • Was kann der/die Einzelne selbst, zusammen mit anderen und was muss die Politik tun?
Speziell für den Theaterunterricht
Übungen als Vorstufe zum Bühnenkampf (nach Nick Doormann)
Bewegung durch den Raum

Die Gruppe bewegt sich in einem bestimmten, von der Spielleitung vorgegebenem Tempo durch den Raum. Die TN (= Teilnehmer:innen) dürfen keinen Kontakt untereinander aufnehmen, sollen den gesamten Raum nutzen (Linien, nicht Kreise gehen) und das Tempo mit dem ganzen Körper umsetzen:

  • Tempo 0: Stillstand/Freeze
  • Tempo I: Zeitlupe
  • Tempo II: langsames (entspanntes) Gehen
  • Tempo III: normales Gehen
  • Tempo IV: schnelles (zielgerichtetes) Gehen
  • Tempo V: Laufen
Variation: Rempeln:

Die TN berühren sich gegenseitig an der Schulter während sie gehen. In der Grundversion sind die Berührungen vorsichtig und sanft. Als vorbereitende Übung zum Bühnenkampf können die Berührungen bis zu einem Schubsen, Ziehen oder Rempeln gesteigert und sogar mit unterschiedlichen Falltechniken verknüpft werden. Je intensiver die Berührungen, desto deutlicher muss natürlich auf die Sicherheit der TN geachtet werden. Dabei ist es wichtig, dass der Kontakt immer vor dem Impuls stattfindet.

Impulskreise

Für einen Impulskreis stellt sich die Spielgruppe in einem Kreis auf. Ein Impuls wird initiiert und in der Gruppe weitergegeben. Generell eignen sich besonders Handlungen, die ein Geräusch hervorrufen (z.B. Klatschen, Stampfen, Schnipsen), aber auch verbale Impulse (Worte, Laute) und stille Mimik und Gestik. Als Steigerung ist es möglich mehrere Impulse zu initiieren, wie beispielsweise Schnipsen, Klatschen und Stampfen.

Variation: ‚Rhythmus‘:

Die Spielgruppe steht im Kreis. Ein Impuls wird initiiert, in beide Richtungen weitergegeben und beibehalten bis die gesamte Gruppe den Impuls im gemeinsamen Rhythmus konstant wiederholt. Geeignet sind einfache Impulse, wie ein Schulterklopfen. Um die körperliche Intensität zu steigern ist es sinnvoll, die Impulse gekreuzt vor dem Körper auszuführen. Das heißt, dass man beispielsweise mit der rechten Hand auf die rechte Schulter des linken Nachbarn klopft (während dieser das gleiche bei seinem Nachbarn macht usw….).

Variation: Cross

Der Impuls wird als Cross weitergegeben. Die rechte Faust wird dabei hinter den Kopf des nächsten TN gebracht und ein Schlaggeräusch mit der freien Hand hinzugefügt.

Variation: Nackenklatsche

Der Impuls wird als Bewegung zum Nacken des nächsten TN weitergegeben, der sich unter dem Impuls wegduckt und den Impuls im Hochkommen weitergibt.

Variation: Messerwurf

Der Impuls wird in Form eines pantomimischen Messerwurfs quer durch den Kreis gegeben. Ein TN beginnt mit einem imaginären Messerwurf auf einen beliebigen anderen TN. Der getroffene TN gibt den Impuls weiter usf. Diese Übung funktioniert mit oder ohne Fallen. Es ist wichtig darauf zu achten, dass die TN deutlichen Blickkontakt aufbauen bevor sie werfen und dass die Wurfgeste deutlich ausgespielt wird.

Variation: Duell 

Der Impuls ist die Nennung eines Namens. Der genannte TN geht in die Hocke und die beiden benachbarten TN duellieren sich, indem sie eine ‚Pistolen-Geste‘ machen und ‚Peng‘ sagen. Der langsamere TN scheidet aus. Der genannte TN nennt nun seinerseits einen TN usw. Die beiden, die als letztes im Spiel sind, duellieren sich ‚klassisch, Rücken an Rücken.

Backpfeife

Die Gruppe stellt sich paarweise auf.  A und B,  hüftbreiter Stand, abmessen des Abstandes (Armlänge voneinander entfernt), A  ist Geber, nimmt Arme vor die Brust, nimmt Schwung und führ ausgestreckten Arm am Gesicht von B vorbei, B, wendet ruckartig Kopf in entsprechende Richtung und klatscht in die Hände.

Achtung: A muss gerade stehen, darf sich nicht vorbeugen, muss Füße parallel halten (kein dynamischer Schritt), Timing muss stimmen; Geräusch muss laut genug sein (eine Hand als Höhle, die andere klatscht ein nur mit oberer Handhälfte), Rücken zum Publikum. 

Gerader Faustschlag

Gleiche Stellung zum Publikum, A und B stehen zueinander wie bei Backpfeife, A holt aus mit Faust (Faust: Daumen wird von Fingern umschlossen, andere Hand in Kinnhöhe ), führt Faust gerade auf B zu, im Moment des Treffers klopft sich A mit der anderen Hand auf den Brustkorb (Geräusch), B wirft Kopf zeitgleich nach hinten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert