Einem Menschen ist Unrecht widerfahren, aber der Staat lässt ihn im Regen stehen. Er greift zur Selbstjustiz, wird zum Fanatiker und später als Terrorist zum Tode verurteilt. Ist das in Ordnung? Zu Björn Kruses klug gebauter Inszenierung von Heinrich von Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“ im Theater Das Zimmer mit zwei großartigen Schauspielern.

Die Kritik
Alltag im Kommissariat. Ein behäbiger Beamter (Ulrich Bähnk) betritt das Büro, stellt Aktentasche und Stullen-Box ab und beginnt seinen Arbeitstag. Richtet die Kamera für das folgende Gespräch ein, geht zur Tür, um den ersten Häftling aufzurufen: „Herr Kohlhaas, bitte! Michael Kohlhaas!“ Die Arme auf dem Rücken, in Handschellen gefesselt erscheint er. Kein bisschen geknickt oder gebrochen. Den Blick trotzig in Richtung Kommissar gewandt steht Jascha Schütz als Kohlhaas aufrecht vor dem Schreibtisch, setzt sich erst nach mehrmaliger Aufforderung und fällt dem Beamten immer wieder ins Wort oder korrigiert ihn („von Tronka!“), als der akribisch in seinem Aktenordner Daten zu Kohlhaas und seinen Taten verliest.
Das Verhör dient als eine Art Rückschau, in der das Geschehen wieder aufersteht.
Regisseur Björn Kruse gelingt mit diesem Setting ein eleganter Weg, um die im 16. Jahrhundert angesiedelte Geschichte von Kleists Rebellen ins Heute zu holen. Das Verhör dient ihm als eine Art Rückschau, in der das Geschehen wieder aufersteht und in Teilen nachgespielt wird, bevor es wieder zurück in die Beamtenstube schwingt, wo der Kommissar in seinen Akten blättert und mit seinen Fragen die Handlung weiter vorantreibt. An einer Magnettafel sind Fotos von beteiligten Personen wie das von Kohlhaas Frau Lisbeth oder das des Junkers von Tronka angepinnt, die vom Kommissar mit Pfeilen zueinander in Beziehung gesetzt werden, in Video-Einspielungen kommen Martin Luther (Björn Kruse) oder der Kurfürst von Sachsen (gespielt von einem Mitglied der Bürgerbühne) zu Wort – all das Möglichkeiten, Kohlhaas’ Angelegenheit genauer auf den Grund zu gehen. Denn der Sachverhalt ist kompliziert, die Geschichte hat vielerlei Wendungen, daher nur so viel: Kohlhaas, einem angesehnen Rosshändler aus Brandenburg, wird an der Grenze zu Sachsen Unrecht angetan durch den Junker von Tronka. Als seine Klage erfolglos bleibt, greift er zur Selbstjustiz, überspannt jedoch den Bogen, indem er ganze Städte in Brand setzt und deren Bewohner tötet. Er wird zum Fanatiker, der Gerechtigkeit will, egal, ob dabei die Welt zu Grunde geht.
Bähnk nimmt verschiedene Rollen ein. Ihm gegenüber steht Schütz als Kohlhaas.
Kruses Inszenierung kommt mit nur zwei Schauspielern aus: Ulrich Bähnk nimmt verschiedene Rollen ein, verkörpert aber vor allem Vertreter des Staates oder eine Autorität wie Martin Luther, aber auch mit einem Foto in der Hand Kohlhaas’ Frau Lisbeth. Als Kommissar verkörpert er jemanden, der seinen Job macht und dröhnend einmal verfasste Regeln („Sie sollen sich setzen!“) durchsetzt, andererseits aber auch interessiert in den Akten stöbert, um Genaueres über den Tathergang herauszufinden. Als Lisbeth nimmt er eine gebeugte Körperhaltung ein, ist leiser, zarter. Ihm gegenüber steht Jascha Schütz als Kohlhaas. Schütz, der bereits in Kruses erfolgreichen Inszenierungen wie „Woyzeck“ oder „Die Leiden des jungen Werther“ am Theater Das Zimmer jeweils die Titelrollen gespielt hat, gehört sicher zu den spannendsten und begabtesten Schauspielern seiner Generation. Differenziert und feinnervig legt er seinen Kohlhaas an. Er ist der aufmüpfige Rebell, der sich von einem sturen Beamten nichts sagen lässt, wird zum Aufwiegler, der mit dem Megaphon ganze Gruppen hinter sich schart und Flugblätter mit „Tronka muss weg“ verteilt. Im Gespräch mit seiner Frau ist er behutsam und sanft, wenn er bei seinem Idol Martin Luther vorspricht, bleibt er fast demütig und verhalten. Schütz versteht es, Pausen zu setzen, Stille auszuhalten, für die Figur und deren Erzählung einen Rhythmus zu finden.
Gerade mal 90 Minuten (inklusive Pause) braucht es, um diese hier sinnvoll verschlankte Geschichte von Kohlhaas zu erzählen. Dem Theater Das Zimmer ist mit dieser Inszenierung erneut ein unbedingt sehenswerter Abend gelungen.
Weitere Informationen unter: https://www.theater-das-zimmer.de/Veranstaltung/michael-kohlhaas/
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- Ungerechtigkeit eines korrupten Staates
- Selbstjustiz
- Fanatismus und seine Folgen
Formale SchwerpunKte
- Erzählung aufgeteilt wie Dialoge auf zwei Figuren
- Übernahme verschiedener Rollen durch einen Schauspieler
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
- Ab 16 Jahre, ab Klasse 10/11
- Empfohlen für den Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt
Michael Kohlhaas, ein angesehner Rosshändler aus Brandenburg, will seine Pferde in Sachsen verkaufen, wird aber an der Grenze vom Junker von Tronka angehalten, der von ihm einen Passierschein verlangt, den Kohlhaas aber nicht besitzt und den es, wie er in Dresden erfährt, tatsächlich auch gar nicht gibt. Kohlhaas hat seine Pferde als Pfand bei von Tronka zurückgelassen, muss aber bei seiner Rückkehr erkennen, dass diese durch harte Arbeit verschlissen und wertlos sind. Die Klage, die Kohlhaas daraufhin beim Kurfürsten von Sachsen einreicht, wird abgewiesen, seine Frau Lisbeth kommt bei einem Bittgang zu Tode. Damit ist für Kohlhaas das Maß voll. Er beginnt einen Rachefeldzug gegen einen Staat, der keine Gerechtigkeit walten lässt. Als seine Frau bei einem Bittgesuch so schwer misshandelt wird, dass sie stirbt, beginnt sich Kohlhaas zu radikalisieren. Er sammelt Gleichgesinnte um sich herum, überfällt von Tronkas Burg, tötet alle Bewohner, setzt Leipzig und Wittenberg in Brand. Er wird festgenommen, durch die Fürsprache Martin Luthers wird sein Prozess neu aufgerollt, Kohlhaas aber erneut festgenommen. Durch eine Zigeunerin, die ihm einen Zettel in einer Kapsel hat zukommen lassen, bekommt Kohlhaas kurz vor seinem Tod die Möglichkeit, sein Leben zu retten und die Freiheit wieder zu erlangen oder aber Rache an dem sächsischen Kurfürsten zu üben, der den Zettel lesen möchte. Kohlhaas entscheidet sich für die Rache, indem er den Zettel einfach verschluckt. Er wird enthauptet.
Mögliche Vorbereitungen
- Recherche zu Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas (Inhalt) bzw Lektüre der Novelle
- Recherche zum historischen Hintergrund
- Recherche zu (aktuellen) Fällen von Selbstjustiz
Im Unterrichtsgespräch:
- Wie bewertet ihr das Verhalten von Kohlhaas? Welche Gründe habt ihr? Ist er ein Terrorist?
- Pro und Contra Selbstjustiz
Speziell für den Theaterunterricht
Darstellen von Emotionen über Körperhaltung
Die Spielleitung leitet die Gruppe im Raumlauf an. Zunächst gehen alle im neutralen Gang und neutralem Tempo. Durch ein akustisches Zeichen der Spielleitung bleibt die Gruppe stehen und jede:r versucht, über die Körperhaltung eine von der Spielleitung genannte Emotion zu verkörpern (Trauer, Freude, Schüchternheit, Demut, Wut, Kälte usw.). Nach jeder Darstellung erfolgt wieder ein akustisches Zeichen und die Gruppe bewegt sich wieder in neutralem Gang und Tempo durch den Raum.