Freiheit oder Tod – diese Frage stellen sich zwei Menschen im Iran: eine junge blinde Läuferin und ihr Laufbegleiter, dessen Ehefrau als politische Gefangene verurteilt ist. Im Thalia in der Gaußstraße zeichnet Regisseur Amir Reza Koohestani mit „Blind Runner“ ein dichtes, konzentriertes Bild von Realität und Sehnsucht in seinem Heimatland. Das Gastspiel der Mehr Theatre Group ist noch bis zum 29. Januar bei den Lessingtagen zu sehen.
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Die Kritik
Zwei Menschen, ein Mann (Mohammad Reza Hosseinzadeh) und eine Frau (Ainaz Azarhoush) stehen einander auf der leeren Bühne gegenüber, machen Lauf- und Dehnübungen. Als Marathonläufer haben sie sich kennengelernt. Aber die Frau jetzt sitzt jetzt wegen der Teilnahme an einer Demonstration für mehrere Jahre im Gefängnis. Wir befinden uns im Iran, und die Geschichte, die der Mann und seine Ehefrau gleich erzählen werden, ist… ja was? So in etwa irgendwann einmal passiert? Aktuell? Fiktional? Mehrere Möglichkeiten schreiben die beiden Schauspielenden an eine Wand, wischen wieder weg, ergänzen. Aber das, was gleich zu sehen sein wird, könnte genauso geschehen sein.
Laufen – das bedeutet für die Frau Freiheit, die Quintessenz des Lebens.
Amir Reza Koohestani, einer der bedeutendsten iranischen Regisseure seiner Generation, hat die Geschichte dieses Paares auf der Bühne im Thalia in der Gaußstraße sparsam und hochkonzentriert in Szene gesetzt. Die Bühne bleibt leer, nur ein Quadrat aus Licht (Bühne und Licht: Éric Soyer) markiert die Zelle im Gefängnis. Überlebensgroße Video-Projektionen ( Video: Yasi Moradi, Benjamin Krieg) verdeutlichen heimliche, von den Aufsehern unbemerkte Gespräche. Meist stehen die beiden Figuren einander entfernt gegenüber oder blicken direkt ins Publikum, ein Zeichen dafür, wie wenig Nähe ihnen erlaubt ist oder vielleicht auch, wie wenig Nähe sie noch füreinander spüren. Es ist die Frau, die ihren Mann dazu drängt, eine junge blinde Läuferin bei einem Wettkampf in Paris zu unterstützen. Laufen – das bedeutet für die Frau Freiheit, die Quintessenz des Lebens. Sie hat ausgerechnet, wie oft sie den Gefängnisgang entlang laufen muss, bis sie die Marathon-Kilometer erreicht hat. Und sie trainiert jeden Tag. Die Besuchs-Szenen werden unterbrochen, indem Mann und Frau über die Bühne laufen, in stetem Rhythmus, irgendwie umangestrengt und frei. Der Mann willigt schließlich in den Vorschlag seiner Frau ein und begleitet die blinde Läuferin. Auf dem Video erscheint übergroß das Gesicht von Ainaz Azarhoush, die nun die Augen schließt und den Part der Blinden übernimmt. Damit verweben sich deren Geschichte und die der Frau miteinander. Die blinde Läuferin schlägt nach dem Wettkampf vor, gemeinsam mit dem Mann durch den Euro-Tunnel nach Großbritannien und damit in die Freiheit zu laufen. Nachts, wenn keine keine Züge fahren, hätten sie dazu knappe sechs Stunden Zeit. Schaffen sie es nicht, wird der erste Zug sie überfahren. Freiheit oder Tod, darum geht es jetzt. Es ist die Ehefrau, die ihrem Mann am Telefon zurät. Das Video zeigt zwei kleine Gestalten in einem endlos erscheinenden Tunnel, stampfende Geräusche zu dunkler Musik (Phillip Hohenwarter, Matthias Peyker) sind zu hören. Dann leuchten die Scheinwerfer der Eurostars auf.
Ein sehenswerter Abend.
Weitere Informationen zu den Lessingtagen unter:https://www.thalia-theater.de/programm/thaliaplus/festivals/lessingtage/lessingtage-2025/