Wolf unter Wölfen

Die Inflation galoppiert, Menschen und Menschlichkeit bleiben auf der Strecke. „Wolf unter Wölfen“, Hans Falladas düsteres Sittenbild vom Sommer 1923, gerät in Luk Percevals Inszenierung am Thalia Theater zu einem wunderbaren poetisch-melancholischen Theaterabend.

Noch regnet es Geld für Pagel (Sebastian Zimmler, vorne). – Foto: Armin Smailovic

Die Kritik

Wolfgang Pagel hat alles verloren. Geld, ja. Aber vor allem sich selbst. Er ist dem Spiel verfallen, hat beim Roulette zunächst wie irre gewonnen, dann einmal falsch gesetzt und schon war alles weg. Nichts mehr da – und die Hochzeit mit Petra konnte er auch vergessen. Geschlagen verlässt er den Moloch Berlin und versucht auf dem Gut seines ehemaligen Vorgesetzten wieder auf die Beine zu kommen und Ruhe zu finden.

Man braucht diese kurze lokale Einordnung, um die Schönheit von Luk Percevals Inszenierung als Ganzes zu würdigen. Denn hier ergeben alle Teile einen sorgfältig komponierten Abend, der vielleicht im zweiten Teil ein wenig lang gerät, insgesamt aber zu fesseln weiß: die überlegte Bühnenfassung der knapp 800seitigen Romanvorlage von Perceval und Dramaturgin Christina Bellingen, das hervorragende Ensemble, und  – hier sind wir wieder bei den Orten – das Bühnenbild von Annette Kurz sowie die Live- Musik von Philipp Haagen und Rainer Süßmilch. 

Zimmler balanciert zwischen Galgenhumor, Verzweiflung und Zärtlichkeit.

Die Geschichte spielt in Wolfgang Pagels (Sebastian Zimmler) Kopf, in seinen Erinnerungen, dreht sich im Kreis um seine verlassene Liebe Petra. Sinnbildlich dafür steht die Drehbühne, die Zimmler unablässig abschreitet. Er wird zum Erzähler dessen, was ihm widerfahren ist, und zum Mitspieler in Szenen, die sich ihm eingeprägt haben. Zimmler trägt den Hauptteil des insgesamt 3:15stündigen Abend. Er balanciert zwischen Galgenhumor, Verzweiflung und Zärtlichkeit, ist der Spieler, der Verlierer, der Beobachter. Fünf weiße überdimensionale Kugeln ballen sich in der Mitte der leeren Bühne. Der Ausgang verwebt sich mit dem Nachtschwarz des Raumes, so dass Figuren quasi wie im Nichts verschwinden. Berlin, wo Pagels Schicksal seinen Anfang nimmt, entsteht durch die urbane Trompete, den live gespielten Freejazz, das Drängeln der Figuren durch die Zwischenräume der Kugeln. Die Musik wird den gesamten Abend wie einen Stummfilm begleiten: Schritte oder Autofahrten akzentuieren, Stimmungen eine Farbe geben, Orte akustisch anstehen lassen. Sie dreht durch bei Pagels letztem Roulettespiel, einem Verzweiflungsakt, denn am nächsten Morgen soll die Hochzeit mit Petra stattfinden. Sebastian Zimmler schiebt eine Riesenkugel nach der anderen beiseite, Papierregen ergießt sich über ihn, er ist besoffen von so viel Spielglück und setzt alles auf eine Zahl, indem er mit der letzten verbleibenden Kugel in einen aussichtslosen Kampf eintritt. Er scheitert. Taumelt, fällt, bleibt liegen. Stille.

Auf dem Gut läuft gar nichts rund.

Bis ihn sein ehemaliger Vorgesetzter, Rittmeister Achim von Prackwitz (Tilo Werner), und dessen Kriegskamerad von Studmann (Oda Thormeyer spielt einen staubtrockenen Beamten) überreden, mit ihnen nach Neulohe auf das Gut des Rittmeisters zu kommen und dort zu arbeiten. Die verbliebene Kugel schwebt als Mond nach oben, der von nun an die neue Umgebung beleuchtet und vieles im Dunklen lässt. Zimmler schleppt unzählige Halterungen und Befestigungen auf die Bühne, in die er nach und nach Bambusstäbe steckt. Ein Wald entsteht, durch den Nebel wabern, die die Undurchsichtigkeit und Verheimlichungen der (Land-)Gesellschaft ein weiteres Bild geben. Hier läuft nämlich gar nichts rund: Der Rittmeisters kann die Pacht an seinen ausbeuterischen Schwiegervater nicht bezahlen kann, seine Frau (Gabriele Maria Schmeide) hätte ihn schon längst verlassen, gälte es nicht unbedingt die Fassade zu wahren. Seine 15jährige lebenshungrige Tochter Violet (Anna Maria Köllner) hat eine heimliche Affäre mit Fritz (Tim Porath), einem Leutnant der paramilitärischen „Schwarzen Reichswehr“. Die plant einen Putsch gegen die demokratische Regierung, versteckt Waffen im Land des Rittmeisters, der sich in seiner Einfalt für die Umsturzpläne einspannen lässt. Lug, Betrug, Erpressung und Verrat, dazu die rasante Geldentwertung – Pagel durchleuchtet in seinen Erinnerungen die Gesellschaft, schreitet weiter, vielleicht zurück zu Petra und zurück zu sich selbst.

Falladas Roman weist durchaus Parallelen zur aktuellen Situation in Deutschland auf. Man hätte die Vorlage auch ganz anders, also viel politischer inszenieren und (mit dem Zaunpfahl?) auf die Gegenwart verweisen können. Perceval hat sich klugerweise dagegen entschieden.  Er zeigt das Undurchsichtige, Ungefähre, aus dem jeder seine eigenen Schlüsse ziehen kann. Auch bleibt der Abend nicht bei schwermütigen Betrachtungen, sondern leuchtet an manchen Stellen auf mit Leichtigkeit und Witz (Tilo Werner  als Ganther, die Badeszenen mit Sprung in den Bühnengraben). Perceval und sein Team haben dem Thalia Theater zur Eröffnung der diesjährigen Lessingtage einen Glücksfall beschert. So kann es weitergehen.  

Weitere Informationen unter: https://www.thalia-theater.de/stueck/wolf-unter-woelfen-2023

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Verlust des inneren Gleichgewichts
  • Suche nach dem inneren Gleichgewicht
  • Beschreibung einer maroden Gesellschaft
Formale Schwerpunkte
  • Collage aus Spiel, Musik und Bühnenbild
  • Mischung von Erzählpassagen und szenischem Spiel
  • Einflechten von Stimmen in den innerer Monolog
  • Aufbau des Bühnenbildes als Teil des Spiels
  • Integration der Live-Musiker als Spieler
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
  • ab 16 Jahre, ab Klasse 10
  • empfohlen für den Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt

Die Fassung von Perceval und Bellingen erzählt Wolfgang Pagels Geschichte aus der Rückschau und  konzentriert sich weniger auf die politischen als vielmehr auf die privaten Ereignisse des Protagonisten Wolfgang Pagel. Der lebt in Berlin im Jahr 1923. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Inflation galoppiert. Pagel, ein leidenschaftlicher Spieler, bestreitet seinen Lebensunterhalt mit den jeweiligen Gewinnen. Am Vorabend der Hochzeit mit seiner Liebe Petra setzt er jedoch beim Roulette auf die falsche Zahl und verliert alles. Vernichtet und sturzbetrunken liegt er am Boden einer Kneipe, wo ihn sein ehemaliger Vorgesetzter, Rittmeister Achim von Prackwitz, findet. Von Prackwitz ist nach Berlin gekommen, um für sein Gut Erntehelfer anzuwerben. Er trifft hier auch auf seinen alten Kameraden Etzel von Studmann, der vor dem ersten Weltkrieg bessere Tage gesehen hat und jetzt in einem Hotel als Empfangschef arbeitet. Das Angebot des Rittmeisters, einen Job auf dem Gut anzunehmen, reizt ihn. Beide überreden auch Pagel, mit nach Neulohe zu kommen, um auf dem Land zu arbeiten und sich zu erholen. Doch statt einer Idylle findet Pagel eine marode, von Lügen, Vertuschung, Erpressung und Verrat gezeichnete Gesellschaft vor: Der Rittmeister steht massiv unter Druck, denn er Kann die hohe Pacht für seinen ausbeuterischen, vollkommen empathiefreien  Schwiegervater nicht aufbringen. Seine Frau liebt ihn schon lange nicht mehr. Sie ist vom Leben enttäuscht und sehnt sich nach Zärtlichkeit, die sie sich bei von Studmann erhofft, allerdings vergeblich. Die 15jährige Tochter Violet ist voller Lebensgier und hat bereits eine heimliche Affäre mit einem Leutnant. Brisant genug, da sie noch minderjährig ist und ihre Briefe vom Hausdiener Hubert gelesen werden und zur Erpressung des Mädchens benutzt werden. Viel schlimmer aber ist, dass der Leutnant Mitglied der „Schwarzen Brigade“ ist, einer paramilitärischen Einrichtung, die einen Putsch gegen die Regierung plant. Die Waffen dafür sind auf dem Land des Rittmeisters vergraben, der aber lässt sich in seiner Notsituation und Naivität für den Umsturz einspannen. Während Pagel sich an all das erinnert, denkt er immer wieder an Petra und beginnt, Schritt für Schritt wieder zu sich selbst zu finden.

   

Mögliche VorbereitungeN
Über Referate oder als vorbereitende Hausaufgabe:
  • Inhaltsangabe zu Fallada: Wolf unter Wölfen
  • Hans Fallada während der Weimarer  Republik 
  • Situation in Deutschland 1923
Speziell für den Theaterunterricht
Vorlesen – Gehen – Stehen – Bleiben

Die Spieler:innen stehen in einer Reihe; die Spielleitung liest die Inhaltsangabe zu „Wolf unter Wölfen“ vor; die Reihe geht langsam auf die gegenüberliegende Seite des Raumes zu; wann immer dem /der einzelnen Spieler:in etwas interessant vorkommt, bleibt er/sie stehen; nach dem Vorlesen nennt jede:r seinen/ihren Themenschwerpunkt, der auf je einer Karten gesammelt wird; bei einem zweitem Durchgang können weitere hinzukommen. Über diese Themen lässt sich diskutieren. Im Anschluss daran kann mit Hilfe der Karten ein eigener Handlungsbogen festgelegt werden. Einzelne Szenen können in Standbildern erarbeitet werden.

Eine akustisch untermalte Szene erstellen

Die Spielleitung teilt den unten stehenden Textauszug (Anfang des Romans „Wolf unter Wölfen“) an Vier-/Fünfergruppen aus

  • Erstellt eine Szene zu nachfolgendem Text. Da hier keine Handlung, sondern eine Situation beschrieben wird, muss die Atmosphäre über akustische Mittel, Requisiten, Standbilder und einen Erzähler/eine Erzählerin deutlich werden. 
  • Versucht einen Rhythmus zu finden, bei dem die einzelnen Aspekte zur Wirkung kommen.
Text:

Auf einem schmalen Eisenbett schliefen ein Mädchen und ein Mann.

Der Kopf des Mädchens lag in der Ellbogenbeuge des rechten Arms; der Mund, sachte atmend, war halb geöffnet; das Gesicht trug einen schmollenden und besorgten Ausdruck – wie von einem Kind, das nicht ausmachen kann, was ihm das Herz bedrückt.

Das Mädchen lag abgekehrt vom Mann, der auf dem Rücken schlief, mit schlaffen Armen, in einem Zustand äußerster Erschöpfung. Auf der Stirn, bis in das krause, blonde Kopfhaar hinein, standen kleine Schweißtropfen. Das schöne und trotzige Gesicht sah ein wenig leer aus.

Es war – trotz des geöffneten Fensters – sehr heiß in dem Zimmer. Ohne Decke und Nachtkleid schliefen die beiden.

Es ist Berlin, Georgenkirchstraße, dritter Hinterhof, vier Treppen, Juli 1923, der Dollar steht jetzt – um 6 Uhr morgens – vorläufig noch auf 414 Tausend Mark.

aus: https://www.projekt-gutenberg.org/fallada/wolf1/chap001.html

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