Primitiv, machtgeil und skrupellos – Alfred Jarrys Ubu weist eine verblüffende Nähe auf zu aktuellen Tyrannen, die sich Präsidenten nennen. Zeit also, das 1896 unter Tumulten uraufgeführte Stück mal wieder auf die Bühne zu bringen. Johan Simons hat es am Thalia Theater realisiert und sich dabei bei zwei weiteren „Ubu“-Stücken Jarrys bedient. Nicht gerade zum Wohl der Inszenierung, denn die mäandert zwischen Groteske, Belanglosigkeit und Farce hin und her und verliert letztlich an Schärfe.

Die Kritik
Abrupte Dunkelheit im Zuschauerraum und auf der Bühne. Ein Pfeifen, dann zwei schrill geschminkte Gestalten auf einer dreigeteilten Videowand: Marina Galic mit schwarzer Zottelperücke und Schnurrbart als Ubu, Jens Harzer mit rot geschminkten Lippen, langem Blondhaar und BH als seine Gattin Mutter Ubu. Beide stieren in die Kamera und damit direkt ins Publikum. Ubus erstes Wort ist ein lautes „Scheitze!“ Vor gut 130 Jahren wurde die Uraufführung in Paris deshalb sofort unterbrochen, es kam zu Tumulten, weil für das Theater immer noch die gepflegte Hochsprache galt. Alles Vulgäre gehörte nicht auf die Bühne, weder bei den Figuren noch in der Sprache. Aber genau das wollte Jarry ja. Er demontierte die Begriffe ließ beispielsweise „Merde“ (Scheiße) zu „Merdre“ (Scheitze“) werden – und machte sie zu einer grobschlächtigen Kunstsprache. Ihm schwebte ein anti-illusionistisches Theater vor mit der Auflösung der biederen Raum- Zeit-Struktur, der Entpsychologisierung der Figuren, der Darstellung von Personen durch Puppen oder Marionetten, dem Ersetzen von Requisiten durch die Schauspieler:innen selbst.
Galic und Harzer als Herrscherehepaar Ubu fressen lebendige Tiere, das Blut läuft ihnen die Lefzen hinunter.
Johan Simons hat sich für seine Inszenierung am Thalia Theater offenbar genau mit Jarry und dessen Vorstellungen beschäftigt und sich mit Stefan Tigges, der zur Schnittstelle zwischen Schauspiel und Bühnenbild forscht, sogar eine wissenschaftliche Begleitung geholt. Die überwiegend im Dunklen gehaltene Bühne mit dem im Schwarz kaum auszumachenden Palasttor und die darüber aufgefächerte Videowand hat Simons zusammen mit Sascha Kühne (auch für Video verantwortlich) gestaltet, wobei die zum Teil aus der Draufsicht gefilmten Szenen wie ein buntes Kaleidoskop wirken und daher vor allem der Ästhetik und weniger der Bedeutung für das weitere Spiel verpflichtet sind.
Viel Raum gibt Simons zu Anfang dem Grotesken, Vulgären: Galic und Harzer als Herrscherpaar Ubu fressen Exkremente und lebendige Tiere, das Blut läuft ihnen die Lefzen herunter, ihr Wortschatz bewegt sich mit „Sackratte“, „Arsch“ und „Ständer“ auf unterstem Niveau. Harzer als Mutter Ubu stachelt mit zuckersüßer Stimme den dumpfen Ehemann an zum Mord am rechtmäßigen König und zur Übernahme des Throns. Kaum an der Macht grölen sie: „Wir bauen die Justiz um. Von nun an sprechen nur noch wir das Recht!“. Grundlos „enthirnen“ (d.h. töten) sie der Reihe nach alle Adligen und Staatsbeamten und bereichern sich an ihren Gütern. Der nunmehr entfesselte Ubu setzt sich, nachdem er einen Krieg begonnen hat, mit der Staatskasse nach Frankreich ab und gibt sich dort als Diener des Volkes aus, allerdings nur, um daraus seinen eigenen Vorteil zu schlagen.
Hier gibt vor allem der großartige Komödiant Jens Harzer seinem Affen Zucker.
So ungefähr endet das eigentliche Stück „König Ubu“. Simons aber reicht das nicht. Er nimmt Teile aus zwei weiteren „Ubu“-Stücken dazu (Jarry hatte sie nie als Trilogie verstanden) und verwässert damit die Inszenierung. Sicher, die Gedanken von Alfred (Thomas Loibl), Eleutria (Lisa-Maria Sommerfeld) und Camille (Pascal Houdus), drei weitgehend normale, also nicht durch die Groteske verzerrte Figuren, sind philosophisch interessant (Houdus’ Hineinsteigern beim Thema „Entscheidung“ ist schauspielerisch großartig), aber sie wirken angeklebt und im Gesamtzusammenhang irgendwie banal. Die Drei sollen das französische Volk darstellen, dem sich Ubu und Frau andienen, aber so recht einleuchtend ist das nicht. Die Inszenierung kriegt auch dann nicht mehr die Kurve, als sie wieder in die Farce zurückspringt und die Ubus als Engländer auftreten lässt, die dem Volk Corned Beef andrehen. Das ist zwar teilweise durchaus komisch, doch man wird den Eindruck nicht los, dass hier vor allem der (unnötig zu betonen) großartige Komödiant Jens Harzer seinem Affen Zucker gibt und den anderen nur noch wenig bis gar keinen Raum mehr lässt. Ein Schritt in Richtung Selbstverliebtheit – aber das passt dann auch wieder zu Ubu.
Weitere Informationen unter: https://www.thalia-theater.de/stueck/ubu-2024
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- Usurpation
- Willkür, Dummheit und Gier eines Herrscherpaares
Formale SchwerpunKte
- Überzeichnung von Figuren und Sprache ins Groteske
- Einsatz von Video zur Darstellung einer anderen Ebene
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
- Nur sehr bedingt geeignet ab 17/18 Jahre, ab Klasse 12
- Eventuell interessant für den Theaterunterricht
Zum Inhalt
Johan Simons hat „Ubu“ mit Teilen aus den beiden anderen „Ubu“-Stücken angereichert, wodurch die Handlung groteske, aber auch sehr unübersichtliche Züge annimmt:
Ubu, ein Offizier, ist dumm, primitiv, machtbesessen und gierig. Seine Frau stachelten an, den Thron des Königs von Polen zu usurpieren, was ihm tatsächlich auch gelingt. Kaum an der Macht, setzt Ubu alle geltenden Gesetze außer Kraft und „enthirnt“ alle Adligen und Staatsbeamten. Er treibt gewaltsam Steuern ein und bereichert sich auf Kosten anderer. Nach einem Feldzug gegen Russland flieht er mit seiner Frau (und der Staatskasse) nach Frankreich, wo er sich als Diener unter das Volk mischt. Das wird repräsentiert durch Alfred, Eleuteria und Camille, die philosophischen Gedanken nachhängen und hin und wieder von einem Bären verfolgt werden. Die Ubus verstellen sich als Engländer und versuchen so, das Volk in ihrem Sinn zu manipulieren (wobei dieser Teil nicht ganz eindeutig ist). Am Ende, wenn die Zeit für den König ausgerufen wird, gehen alle fort. Übrig bleibt der Bär.
Mögliche Vorbereitungen
- Recherche zum Theater von Alfred Jarry
- Recherche zum Inhalt von „König Ubu“, „Ubu Enchaîné“, „Ubu sur la Butte“
- Recherche zum traditionellen Theater Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich
- Recherche zum Surrealismus
- Recherche zur Groteske
Im Unterrichtsgespräch:
- Besprechung der Unterschiede der beiden Theaterformen
Speziell für den Theaterunterricht
Die Spielleitung teilt den Kurs in Vierer- oder Fünfergruppen ein.
Aufgabe
- Sucht euch eine Szene aus der laufenden Szenenarbeit aus und entindividualisiert die Figuren durch Schminke (evtl alle die gleiche Maske, alle gleich weiße Gesichter o.ä.), Kostüm (z.B. alle das gleiche Kostüm), Sprechweise (monoton oder übertrieben schrill, dunkel o.ä.)
- Versucht ein paar Begriffe aus dem Text zu deformieren, indem ihr die Buchstaben vertauscht („Haus“ > „Huas“) oder Buchstaben hinzufügt
- Probt und präsentiert die Szene
- Besprecht die Wirkung