Wie Motive aus Anton Čechows Stück auch für Kinder funktionieren, zeigt die wunderbare, interaktive Inszenierung von Lorenz Nolting.
Die Kritik
Der Baumstamm ist ganz schön schwer. Sonja und Wanja müssen ihn aber noch dringend durch das Foyer auf die Studiobühne des Jungen Schauspielhauses schleppen. Klar, dass sich die auf die Vorstellung wartenden Kinder nicht lange bitten lassen und mit anpacken. Dafür dürfen jetzt alle Kinder in den ersten Reihen sitzen, ihre Hilfe wird auch in den kommenden 75 Minuten erforderlich sein.
Nachwuchsregisseur Lorenz Nolting hat das Postgraduierten-Projekt 2023 nach Motiven aus Anton Čechows „Onkel Wanja“ gestaltet und daraus zusammen mit seinem künstlerischen Team ein interaktives Format für Kinder ab acht Jahren entwickelt. Hier sind die von Melancholie geprägten Figuren des Originals in Tiere verwandelt (Kompliment an die liebevollen Kostüme von Ida Bekiç und Nora Hamm): Wanja, der Gutsverwalter, ist ein Hund (Severin Mauchle), seine Nichte Sonya ein Huhn (Jara Bihler), der Arzt und Naturschützer Astrov ein Käfer (Alicja Rosinski). Serebrjaków, bei Čechow ein Kunstprofessor, der sich mit seiner zweiten Frau Jelena auf das Gut zurückzieht, ist in Noltings Inszenierung ein unerbittlicher, nur am Profit interessierter Schinder (Hermann Book), der über Lautsprecher und Video zugeschaltet ist. Interessanterweise behält er eine menschliche (!) Gestalt, während Jelena (Elsa Stallard) hier als Drache seine rechte Hand für den Bereich Social Media darstellt.
„Hep! Hep! Hep! – Beeilung!“
Angelehnt an typisch Čechowsche Bühnenbilder gibt es auch auf der Studiobühne einen Wald aus Birkenstämmen (Bühne: Nadin Schumacher). Sie hängen an Karabinerhaken und können problemlos von Sonya, Wanja, Astrov und Jelena abgenommen werden. Das ist notwendig, weil sie in Serebrjakóws Sägewerk arbeiten. Dort müssen sie 16 Stunden lang durchackern: Bäume fällen (also abnehmen), hinter der weißen Wand zersägen, schreddern und für die immer mehr fordernden Hamster in große Säcke packen. Über Lautsprecher weckt sie Serebrjaków und treibt sie mit rhythmischem „Hep! Hep! Hep!“ und „Beeilung!“ zur Arbeit an. Als Lohn für die Schufterei bekommen sie ein bisschen Fanta mit Orangengeschmack. Nicht umsonst lautet der Untertitel der Inszenierung „Denn sie verdienen nicht, was sie tun“.
Kindgerecht und ohne angestrengten pädagogischen Zeigefinger erzählen Nolting und sein Ensemble von der vielen Arbeit, dem fehlenden Schlaf und den dadurch entstehenden gesundheitlichen Problemen. Wanja zum Beispiel muss andauernd pupsen (was Kinder sehr lustig finden), weil sein Magen von den Sägespänen und dem vielen Kaffeetrinken ganz verklebt ist (das finden Kinder dann doch wieder traurig). Aber die Tiere sehen in der Freizeit eine Lösung und nehmen sie sich heimlich. Ausgelassen tanzen sie zu Cindy Laupers „Time after Time“, einen Song, den ihnen ein Zauberbaum spendiert. Aber auch der muss wie alle anderen auch bald der Säge zum Opfer fallen. Der Wald soll abgeholzt, das Werk und die Tiere an einen anderen, noch ausbeuterischen Unternehmer verkauft werden. Was tun? Revoltieren? Aber wie? Die Tiere gehen von der Bühne ohne eindeutigen Plan. Das einzige, was sie definitiv wissen ist, dass sie Mut brauchen.
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- Wert der Arbeit
- Solidarität
- Ausbeutung
- Mut
Formale SchwerpunktE
- Menschliche Charaktere in Tiergestalt
- Interaktion mit dem Publikum
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
- ab 8 Jahre, ab Klasse 3
Zum Inhalt
In der Sägefabrik von Serebrjaków schuften die Tiere Sonya, Wanja, Astrov und Jelena jeden Tag 16 Stunden für sehr wenig Lohn. Danach fallen sie todmüde ins Bett, um am nächsten Morgen wieder über Lautsprecher zur Arbeit angetrieben zu werden. Manchmal können sie sich ein bisschen unterhalten und dann wird deutlich, was sie empfinden. Sonya zum Beispiel ist verliebt in die Ärztin Astrov, traut sich aber nicht, ihr das zu sagen. Astrov wiederum fliegt manchmal über die Stadt und erkennt, wie die Wälder von Borkenkäfern vernichtet werden. Wanja hat gesundheitliche Probleme. Weil er wach bleiben muss, um zu arbeiten, trinkt er viel zu viel Kaffee. Sein Magen ist mit Kaffee und Sägespänen verklebt, deshalb muss er andauernd pupsen. Die Tiere erkennen, dass sie dem Stress etwas entgegenhalten müssen, und zweigen sich jeden Tag ein bisschen Freizeit ab. Schon meinen sie, damit ihr Problem zumindest verkleinert zu haben, als plötzlich Serebrjaków von ihnen verlangt, den gesamten Wald in super kurzer Zeit abzuholzen und zu verarbeiten. Das Werk soll an einen anderen Unternehmer verkauft werden, die Tiere sollen dann dort für weniger Lohn arbeiten können. Die Idee zur Revolution kommt auf – aber wird sie tatsächlich umgesetzt? Es braucht Mut dafür. Zumindest nimmt sich Sonya vor, Astrov ihre Liebe zu gestehen.
Mögliche VorbereitungeN
Im Unterrichtsgespräch oder als vorbereitende Hausaufgabe:
- Wann empfindet ihr Stress/Druck?
- Welche Möglichkeiten seht ihr, den Stress/Druck aufzulösen?
- Wo erkennt ihr Ungerechtigkeiten?
- Wie kann man sie abschaffen?
- Kennt ihr Menschen, die sehr viel arbeiten und kaum oder gar keine Freizeit haben?
- Was bedeutet Arbeit für die Menschen?
- Wozu ist sie notwendig? Reicht der Verdienst immer aus, um gut oder angemessen zu leben?
- Wie wollt ihr später arbeiten?