Nôt

Die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmen. In der Nacht, im Traum, im Alptraum. Zur furiosen Eröffnung des Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel mit  „Nôt“ von Marlene Monteiro Freitas.

Ensemble von Marlene Monteiro Freitas‘ „Nôt“ – Foto: Christophe Rayna

Die Kritik

Da ist dieser Mann vor dem Mikro. Seine zackigen Bewegungen erinnern an Charlie Chaplin in „Der große Diktator“, und ähnlich wie der will er offenbar Bedeutendes verkünden. Blöd nur, dass sein Mikrofon stumm geschaltet ist. Ihn hört man nicht, dafür aber das erschreckte Atmen einer Figur mit puppenhafter Maske. Sie putzt einen Spiegel so eifrig, dass es quietscht. Da sind drei Männer mit umgehängten Snare-Drums, die Marschrhythmen trommeln und sich irgendwann synchron in drei bereit gestellte Betten legen. Da ist eine kleine beinlose Königin, die Befehle bellt und manchmal mit angenähten Beinen aus Stoff zum Rhythmus der Trommler spielt, während drei Performer ein blutiges Laken nach dem anderen aufdecken. 

Das Überleben, das Hinausschieben des Todes sind die Themen.

Da ist…, da sind… Unmöglich die Vielzahl der Bilder zu beschreiben, die in Marlene Monteiro Freitas  Tanzperformance „Nôt“ nebeneinander ablaufen oder sich überlagern wie in einem Traum. „Nôt“ bedeutet „Nacht“ im kapverdischem Kreolisch. Die von den Kapverden stammende Monteiro Freitas hat sich für ihre Tanzperformance von den Märchen von „Tausendundeiner Nacht“ inspirieren lassen. Das Überleben, das Hinausschieben des Todes sind dort Themen, ebenso wie die Kreativität, das Irrationale, das Dunkle. Diese Aspekte hat sie in „Nôt“ aufgegriffen. Die Uraufführung hat bereits vor wenigen Wochen das Festival d’Avignon im dortigen Cours d’Honneur, dem weiträumigen Hof des Papstpalastes mit seiner riesigen Bühne, eröffnet. Jetzt leitet es das Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel ein, das die Performance mitproduziert hat. Die k6 ist deutlich kleiner als die Freilichtbühne in Avignon, das Bühnenbild (Yannick Fouassier, Marlene Monteiro Freitas) auf engerem Raum konzentrierter: Weiße Gitter, stramm ausgerichtete weiße Betten, weiße Holzstühle lassen an Krankenhaus, Anstalt oder Gefangenschaft denken. Die Kostüme (Marlene Monteiro Freitas, Marisa Escaleira) der acht Performer:innen sind in schwarz, weiß und rot gehalten. Wer will, kann damit Tod, Unschuld, Hospital, Blut und Krieg assoziieren. Nichts ist festgelegt in diesem Kaleidoskop, das mal von bombastischer Musik, mal von ganz zarten Triangel-Klängen untermalt wird. Komisches vermischt sich mit Beunruhigendem und Groteskem. Kurz schreckt das Publikum auf, als sich ein Performer mit hörbaren Darmbeschwerden und einem Nachttopf durch die Reihen zwängt und andeutet, sich zwischen den Zuschauer:innen zu erleichtern. Auf der Bühne hängt jemand wie Jesus am Kreuz, beginnt dann aber fröhlich zu tanzen. Ein Traum das alles, ein Alptraum, der in einem überwältigenden Schlussbild gipfelt. Während eine Figur offenbar von einer hinter ihr stehenden Gestalt gepeinigt wird und die Trommler leise einen Rhythmus schlagen, wird Nick Caves „Mercy Seat“ erst leise, dann immer lauter eingespielt, die Trommler nehmen den Rhythmus auf, verstärken, überlagern ihn. Der Song wird zu einem überbordenden Inferno. Was für ein Wahnsinnsabschluss! 

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