Ein kleiner charmanter Film findet den Weg auf die Bühne. Zur Erstaufführung von „Nebenan“ im St. Pauli Theater
DIE KRITIK
Das mit dem Casting in London wird wohl erstmal nichts. Oliver, ein bekannter Schauspieler, wollte eigentlich nur noch kurz einen Kaffee in seiner Berliner Eckkneipe trinken, bevor ihn das Taxi zum Flughafen bringen sollte. Aber dann durchkreuzt Bruno seine Pläne und bringt ganz nebenbei auch noch eine Menge Grundsätzliches ins Wanken: Selbstsicherheit, sein perfekt scheinendes Leben, solche Sachen.
Der Schauspieler und Produzent Daniel Brühl hatte zusammen mit dem Schriftsteller Daniel Kehlmann das Drehbuch zu dem Film „Nebenan“ geschrieben, der 2021 in die Kinos kam. Brühl selbst spielte den Schauspieler. Seine Figur trug nicht von ungefähr den Vornamen Daniel, denn der Ostdeutsche Bruno, dargestellt von dem Ostdeutschen Peter Kurth, spielte süffisant auf Brühls tatsächliche Filmrollen an und bereitete damit den Boden für seinen eigentlichen Schlag gegen den Wessi-Schauspieler vor. Beide Figuren tragen mit ihrem biografischen Hintergrund und ihrer Selbstironie erheblich zum Charme des Films bei.
Wichtig ist die allmähliche Demontage des Schauspielers.
Jetzt hat Ulrich Waller im St. Pauli Theater die deutsche Erstaufführung von Kehlmanns Bühnenfassung inszeniert. Die Ost-West-Vorurteile und Missverständnisse geraten allen Behauptungen im Programmheft zum Trotz in den Hintergrund. Wichtiger ist die allmähliche Demontage des Schauspielers. Der heißt in diesem Fall Oliver, denn die Rolle ist mit Oliver Mommsen besetzt. Zweifellos ein guter Griff, denn Mommsen spielt diese Figur mit allen erdenklichen Nuancen: Sonnenbrille, Beanie-Mütze, Rollkoffer (Kostüme: Ilse Welter) und das Handy in steter Bereitschaft – schon beim Eintreten in die mit Schultheiß-Werbung und dominantem Tresen ausgestatteten Kneipe (Bühne: Raimund Bauer) spürt man seine hektische Wichtigkeit. Natürlich spricht er Englisch am Telefon mit der Londoner Produktionsfirma, und klar, nur zu gerne erlaubt er der jungen Touristin (Anna Catarina Fadda) ein Selfie mit ihm. Sein Ego ist riesig, locker kann er erst einmal die Spitzen kontern, die Bruno (Stephan Grossmann) aus seiner Ecke der Kneipe abschießt.
Der Abend funktioniert durch den Schlagabtausch der beiden Schauspieler.
Es geht um Stasi-Filme, in denen Oliver mitgespielt haben soll. Sie liefern Bruno, dem Ossi, die Vorlage für seine Wut auf Wessis wie Oliver, die sich nach der Wende in Berlin breitgemacht, die Viertel gentrifiziert und seinen Vater aus der Wohnung vertrieben haben. Brunos Pfeile treffen hier aber nur bedingt. Im Gegensatz zu Brühl hat Mommsen, ein verdienter Film- und Fernsehschauspieler, nicht in Stasi-Filmen mitgespielt, eine Figur wie der Bremer „Tatort“-Kommissar kann für das Ost-West-Thema nichts beisteuern. Diesem Problem werden auch alle weiteren Theaterinszenierungen ausgesetzt sein, was schade, aber nicht zu ändern ist. Der Abend – rätselhafter Weise vor allem in der ersten halben Stunde durch Black unterbrochen – funktioniert durch den Schlagabtausch der beiden Schauspieler. Grossmanns Bruno hat etwas Leises, Weiches. Sanft schleimt er sich in Olivers Denken. Zunächst scheint er noch der Unterlegene. Einer, der seine Rente in die Kneipe trägt (Nadja Petri gibt eine wunderbar trockene, durch nichts zu beeindruckende Wirtin). Doch mit jeder noch so kleinen Frage bekommt er Oberwasser, bis er Oliver schließlich vollständig in der Hand hat. Dessen Leben scheint erst einmal ruiniert. Der 90-minütige Abend ist es nicht.
https://www.st-pauli-theater.de/programm/nebenan/
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- Gentrifizierung
- Vorurteile/ Missverständnisse im Verhältnis Ost-West
- Demontage eines Selbstbildes
Formale Schwerpunkte
- Realismus in Bühnenbild und Spiel
- Statuswechsel
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
- ab 15/16 Jahre, ab Klasse 10/11
- empfohlen für WiPo-, Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt
Oliver ist ein erfolgreicher Schauspieler. Er lebt mit seiner Familie in einer schicken Berliner Wohnung, seine Karriere läuft gerade bestens. Auf dem Weg zu einem internationalen Casting in London, will er nur noch schnell einen Kaffee in seiner Eckkneipe nehmen, als ihn ein Mann anspricht. Bruno hat seine Kindheit in der Wohnung verbracht, in der jetzt Oliver lebt. Nach der Wende hatte sie ein Investor gekauft, Brunos Eltern mussten sich eine andere Wohnung suchen. Jetzt lebt Bruno nur durch einen Hof getrennt gegenüber von Oliver und bekommt durch die geöffneten Fenster dessen gesamtes Privatleben mit. Hatte Oliver zu Beginn nur ein kurzes Nicken für Bruno übrig und war statt dessen mit Telefonaten mit der Londoner Produktionsfirma beschäftigt, hört er ihm allmählich mehr und mehr zu. Seine ursprüngliche Sicherheit kippt, Bruno, der sich als Mitarbeiter eines Kreditkartenunternehmers entpuppt, provoziert ihn mit immer deutlicheren und für Oliver sowohl erstaunlichen wie auch peinlichen Details aus Olivers Privatleben. Am Ende ist nicht mehr viel übrig von Olivers Selbstbild und seinem Lebensentwurf.
Mögliche VorbereitungeN
Über Referate oder In Gruppenarbeit
- Berlin: Situation einer Stadt vor und nach der Wende (u.a. Rolle von westlichen Investoren, Vergleich von Mieten)
- Rolle der Stasi in der DDR
- Die Umgestaltung der ostdeutschen Wirtschaft nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen zwischen 1990 und 1994 (Rolle und Arbeit der Treuhand)
Speziell für den Theaterunterricht:
Das Stück spielt mit dem wechselnden Status (Begriff von Keith Johnstone) der beiden Protagonisten (Statuswippe).
Statusübungen
Begrüßungsspiel:
- Alle gehen durch den Raum, wenn ihr euch trefft, begrüßt euch freundlich.
- Ihr habt die Wahl: Ihr könnt die Begrüßung ablehnen.
Blickkontakt-Spiel
- Aufteilen der Gruppe, beide Teile stehen einander gegenüber: A hält Blickkontakt, B unterbricht,
Wechsel
Übung zur Körperhaltung
Alle stehen im Kreis, Beine hüftbreit, ein Faden geht durch den Körper, Schultern gerade
dann: Beine kreuzen, am Pullover ziehen, Kopf senken.
Was erzielt welche Wirkung?
Austeilen der Status-Tabelle nach Johnstone (s.u.), evtl. reflektieren
Statusübergänge
Übergänge von Hoch- zu Tiefstatus sind meist fließend; bzw. gibt es Abstufungen. von 1 (niedrigstes) bis 5 (höchstes).
Übung: Wand zu Wand
Die eine Wand und die Gegend davor repräsentiert Hochstatus, die gegenüberliegende Tiefstatus. Je nachdem ob die Spieler+innen näher der einen Wand sind oder der anderen, gehen sie im jeweiligen Status durch den Raum und begegnen sich auch in diesem Status. Sie gehen langsam von einer Wand zur anderen.und wechseln fließend von einem Extrem ins andere.
Statuswippe
Die Gruppe stellt sich paarweise auf, die SL gibt jedem Paar eine der nachfolgenden Aufgaben auf einem Zettel: an die Gruppe folgende Aufgabe (jeweils auf einem Zettel):
Aufgabe:
Probt eine Szene, in der der ursprüngliche Status kippt/ wechselt. Schafft dafür zunächst eine Situation, in der der Status deutlich wird (Achtet auf Körperhaltung; vgl. Handout) und vollzieht dann einen klar erkennbaren, sinnvollen Statuswechsel. Dabei dürft ihr eigenen Text verwenden.
Situation: Du stehst im Supermarkt an der Kasse, hinter dir ist eine lange Schlange. Als du bezahlen willst, merkst du, dass du zu wenig Geld und keine EC-Karte hast.
Aufgabe:
Probt eine Szene, in der der ursprüngliche Status kippt/ wechselt. Schafft dafür zunächst eine Situation, in der der Status deutlich wird (Achtet auf Körperhaltung; vgl. Handout) und vollzieht dann einen klar erkennbaren, sinnvollen Statuswechsel. Dabei dürft ihr eigenen Text verwenden.
Situation: Du bist zum ersten Mal mit deinem Traummann/deiner Traumfrau verabredet – und kommst 15 Minuten zu spät
Aufgabe:
Probt eine Szene, in der der ursprüngliche Status kippt/ wechselt. Schafft dafür zunächst eine Situation, in der der Status deutlich wird (Achtet auf Körperhaltung; vgl. Handout) und vollzieht dann einen klar erkennbaren, sinnvollen Statuswechsel. Dabei dürft ihr eigenen Text verwenden.
Situation: Du hast ein Vorstellungsgespräch für einen Traumjob. Beim Eintreten ins Zimmer des Personalchefs merkst du, dass du einen Kaffeefleck auf dem Hemd/der Bluse hast.
Aufgabe:
Probt eine Szene, in der der ursprüngliche Status kippt/ wechselt. Schafft dafür zunächst eine Situation, in der der Status deutlich wird (Achtet auf Körperhaltung; vgl. Handout) und vollzieht dann einen klar erkennbaren, sinnvollen Statuswechsel. Dabei dürft ihr eigenen Text verwenden.
Situation: Die Polizei hält dich an, weil du mit 75 km/h durch eine Ortschaft gefahren bist.
Aufgabe:
Probt eine Szene, in der der ursprüngliche Status kippt/ wechselt. Schafft dafür zunächst eine Situation, in der der Status deutlich wird (Achtet auf Körperhaltung; vgl. Handout) und vollzieht dann einen klar erkennbaren, sinnvollen Statuswechsel. Dabei dürft ihr eigenen Text verwenden
Situation: Der Türsteher eines angesagten Clubs lässt dich nicht rein.
Aufgabe:
Probt eine Szene, in der der ursprüngliche Status kippt/ wechselt. Schafft dafür zunächst eine Situation, in der der Status deutlich wird (Achtet auf Körperhaltung; vgl. Handout) und vollzieht dann einen klar erkennbaren, sinnvollen Statuswechsel. Dabei dürft ihr eigenen Text verwenden
Situation: Du hast Karten für ein Konzert im Vorverkauf gekauft. Als du sie am Eingang vorzeigen willst, stellst du fest, dass du sie zu Hause vergessen hast.
Tabelle zu Hoch-Und Tiefstatus
Hoch- oder A-Status | Tief- oder B-Status |
Sei entspannter als die anderen, bewege dich weniger als sie. | Bewege dich hektischer/ruckhafter als andere. |
Halte den Kopf still, wenn du sprichst. | Bewege den Kopf hin und her |
Winke jemandem zu, indem du den Ellbogen gegen den Körper presst. | |
Halte den Blickkontakt. | Unterbrich den Blickkontakt, nimm ihn dann wieder auf. |
Nimm viel Raum ein. | Nimm möglichst wenig Raum ein. |
Nenne die Leute beim Namen. | Lache unmotiviert, zwinkere. |
Berühre andere im Gesicht, fahre ihnen durchs Haar, tätschele sie am Kopf. | Berühre dein Gesicht, deinen Kopf. |
Verwende manchmal ein langes „Ääh!“ bevor du sprichst. | Unterbrich deine Sätze durch kurze „Äähs“. |
Reagiere stets mit Verzögerung. | Antworte/ reagiere prompt. |
Bleibe meistens regungslos. | Trete von einem Bein auf das andere, bleibe nie ganz ruhig stehen. |
Halte den Kopf gerade, nimm die Hände weg vom Körper. | Spiele nervös mit den Händen. |
Verwende geführte und entspannte Bewegungen. | Drehe die Zehen nach innen |
Sprich in ganzen Sätzen. | Zupfe an deiner Kleidung, wenn du sprichst |
Achte auf ruhige Atmung. | Sei außer Atem, bevor du sprichst. |
Überlege lange, bevor du antwortest. | Stimme allem zu, nicke eifrig. |