Liebe Grüße oder Wohin das Leben fällt

Um die Eltern zu verstehen, hilft manchmal ein Sprung in die Vergangenheit. Riccarda Russos wunderbar anrührende Inszenierung im Jungen Schauspielhaus.

Foto: Maris Eufinger

DIE KRITIK

Schon klar, dass man als Kind nicht alles über seine Eltern und Großeltern weiß. Trotzdem: Wenn man sich mit deren Geschichte beschäftigt, wird vieles verständlicher und hilft im Umgang miteinander. Der Niederländer Theo Fransz hat zu diesem Thema das Stück „Liebe Grüße oder Wohin das Leben fällt“ geschrieben und ist dafür zu Recht 2020 mit dem Deutschen Kindertheaterpreis ausgezeichnet worden. Feinfühlig und mit viel Witz erzählt er von der zehnjährigen Anna, die überhaupt nicht versteht, warum ihr Vater Juri ihr ständig sagt, wie lieb er sie hat. Sie lacht auch ein bisschen über ihren zunehmend verwirrter werdenden Großvater Georg, der immer zum Bahnhof geht und auf seine Frau wartet. Die ist aber schon lange nicht mehr da und Annas Vater spricht nicht über sie. Die fortschreitende Demenz des Großvaters macht einen Umzug ins Pflegeheim unumgänglich. Beim Ausräumen der Wohnung entdeckt Anna alte Filmrollen und taucht darüber in die Vergangenheit ein: Ihr Vater begegnet ihr als Zehnjähriger, ihr Großvater als deutlich jüngerer Mann. Auf Filmrollen ist die abwesende Großmutter als junge Frau  in Venedig, Amsterdam und anderen tollen Städten der Welt zu sehen. Ihre Briefe, die mit dem titelgebenden „Liebe Grüße“ enden, zitiert der Großvater auswendig und mit glänzenden Augen. Im Gegensatz zu seinem Sohn glaubt er fest an die Rückkehr seiner Frau. Irgendwann kommt es bei Annas Reise in die Vergangenheit zu einem Gespräch zwischen ihr und dem noch jungen Großvater.  Und auf einmal beginnt Anna ganz viel zu verstehen.

Dieser Abend ist ein absoluter Glücksfall.

Riccarda Russo hat mit ihrer ersten Inszenierung am Jungen Schauspielhaus ein feines Gespür für den Text und die dort verhandelte Situation bewiesen. Neben einem Haus mit Wohnzimmer im Stil der 50er Jahre und einer Schaukel auf der rechten Seite sehen wir Anna (Jara Bihler) beim Hinkepott-Spiel (Bühne und Kostüme: Karolina Wyderka). „Das ist mein Opa“, stellt sie ihren im Wohnzimmer herumirrenden Großvater (Hermann Book) vor. Jara Bihlers Anna mit Brille, kindlicher Frisur und kurzem Rock stellt nicht nur die Figuren vor, sie kommentiert auch das Geschehen aus der Sicht des Kindes. Bihler gelingt das Kunststück, vollkommen glaubwürdig eine Zehnjährige zu verkörpern. Sie kichert in sich hinein, wenn ihr Opa merkwürdige Dinge tut, bleibt aber dabei liebevoll und zärtlich. Ebenso mit ihrem Vater Juri, obwohl der ihr manchmal auf die Nerven geht. Severin Mauchle spielt sowohl den Erwachsenen als auch das Kind Juri. Als Erwachsener zeigt er die latente Überforderung mit dem alten Vater, als Kind die Sehnsucht nach der Mutter und die bittere Enttäuschung darüber, dass sie selbst bei seinem Geburtstag nicht erscheint. Zart zeichnet auch Hermann Book seine Figur aus Vergangenheit und Gegenwart. Als jüngerer Mann strahlt er versonnen, wenn er von seiner abwesenden Frau schwärmt. Nur ganz nebenbei lässt er erkennen, dass er sehr krank ist. Den dementen Großvater verrät er keine Sekunde für einen Lacher, zeigt ihn vielmehr als einen um seine Würde kämpfenden alten Mann.

Dieser einstündige Abend ist ein absoluter Glücksfall. Und zwar nicht nur für Kinder ab acht Jahren, sondern auch für deren ältere Geschwister und ihren Eltern. 

https://junges-schauspielhaus.de/stueck/liebe-gruesse-oder-wohin-das-leben-faellt/

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Geheimnisse innerhalb der Familie
  • Ehrlichkeit
  • Kommunikation
  • Freundschaft und Vertrauen
Formale Schwerpunkte
  • Vermischung von Gegenwart und Vergangenheit
  • Kommentieren des Spiels
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
  • ab 8 Jahre, ab Klasse 3
  • empfohlen für Ethik-, Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt

Anna ist zehn Jahre alt. Sie wohnt in einem Haus zusammen mit ihrem Vater und ihrem Großvater. Der aber ist schon lange krank, wird zunehmend dement und muss in ein Pflegeheim ziehen. In seiner Verwirrung macht er Andeutungen, die Anna nicht versteht. Ihr Vater Juri kann oder will dazu nichts sagen, denn er spricht nicht über seine Kindheit, vor allem nicht über seine Mutter, die eigentlich ständig auf Reisen, aber nie für ihn und den Vater da war. Als Anna beim Aufräumen des Hauses ein paar Filmrollen entdeckt und eine davon öffnet, geschieht etwas Sonderbares: Plötzlich tauch ein zehnjähriger Junge namens Juri auf, der behauptet, in diesem Haus zu leben. In Juris Vater meint Anna, Ähnlichkeiten mit ihrem Opa zu entdecken. Gemeinsam sehen sich die Drei einen Film an, in dem Juris Mutter in Amsterdam zu sehen ist, in einem dazu gehörigen Brief an den Vater schreibt sie, wie sehr sie ihn vermisst. Juri aber ist zornig auf seine Mutter. Er vermutet sogar, dass sie den Vater betrügt und gar nicht mehr vorhat, von ihren Reisen nach Hause zurückzukehren. Je länger sich Anna jedoch mit Juris Vater unterhält, desto klarer wird ihr, dass sie in die Vergangenheit ihres Vaters eingetaucht ist und sich mit ihrem -damals noch jungen – Großvater unterhält. Sie erkennt, was wirklich hinter den Reisen der Großmutter steckte und warum ihr eigener Vater, ihr ständig sagt, wie lieb er sie hat.

Mögliche VorbereitungeN

Im Unterrichtsgespräch:

Wer von euch hat sich einmal ein Familienalbum angesehen?

Was ist daran interessant?

Wisst ihr, wie sich eure Eltern kennengelernt haben?

Speziell für den Theaterunterricht: 

Folgende Stilmittel können in der Inszenierung wiederentdeckt werden:

Die Reise

Die SL erzählt eine Geschichte, die Gruppe muss sich entsprechend bewegen. Bei jedem einzelnen Punkt etwa 30 – 60 Sek. bleiben.

Die Gruppe liegt verteilt im Raum mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Die SL macht folgende Angaben:

  • Ihr öffnet die Augen und nehmt wahr, was ihr seht.
  • Ihr steht langsam auf. Wenn alle stehen, setzt ihr euch in Bewegung (Impuls kommt aus der Gruppe).
  • Ihr geht durch weiches Gras, die Sonne scheint.
  • Ihr kommt an einen Strand, der Sand ist sehr heiß, aber ihr müsst ihn überqueren.
  • Endlich seid ihr am Wasser. Es kühlt eure Füße. Ihr seid erleichtert und geht bis zum Bauchnabel immer weiter.
  • Ihr verlasst das Wasser, geht zurück an den Strand. Es beginnt zu regnen.
  • Ihr geht schnell zu einem Weg, aber der ist sehr steinig.
  • Der Weg führt zu einer mehrspurigen Straße. Noch immer regnet und stürmt es, aber ihr müsst die Straße überqueren.
  • Ihr habt es geschafft und such jetzt Schutz in einer riesigen Kathedrale. Es ist ein unglaublich prächtiges Bauwerk. So etwas habt ihr noch nie gesehen.
  • Ihr findet eine Tür, die durch einen niedrigen schmalen Gang führt.
  • Ihr gelangt ins Freie. Es hat aufgehört zu regnen. Erleichtert setzt ihr euch auf eine Parkbank.
Zeitlupe (Vorübung)

Die Gruppe bewegt sich in Tempo 1 (Zeitlupe) durch den Raum und achtet dabei auf das genau Absetzen des Fußes und das Anheben des anderen Fußes. Je langsamer, desto genauer.

Wettrennen in Zeitlupe

Die Gruppe stellt sich an eine Seite des Raumes. Auf ein Signal der SL bewegt sie sich im Zeitlupen-Laufschritt (d.h. die Arme bewegen sich mit) zur anderen Seite. Wer zuletzt ankommt, hat gewonnen.

Zeitlupenkampf

Die Spieler*innen stellen sich paarweise gegenüber und kämpfen, ohne einander zu berühren, in Zeitlupe. Jeder Schlag oder Tritt muss genau ausgeführt und vom Gegner/der Gegnerin mit entsprechender Reaktion angenommen werden. Erst dann wird zum Gegenschlag ausgeholt.