Eine Vermutung wird zu einer Überzeugung. Eine Überzeugung, lange genug wiederholt, wächst an zu einer Wahrheit. Fakten und Beweise? Sind egal. Um dieses gerade aktuell wieder so drängende Thema geht es in John Patrick Shanleys „Doubt“. Clifford Dean hat das Stück jetzt mit einem beeindruckenden Ensemble am Hamburger English Theatre inszeniert.

Die Kritik
Eine christlich geführte Schule in der Bronx 1964. Sister James (Naomi O’Taylor) hat gesehen, wie Father Flynn (Brian Tynan) einen Jungen aus ihrer Klasse mit ins Pfarrhaus genommen hat, anschließend wirkte der Junge verstört, sein Atem roch nach Alkohol. Sister James berichtet davon ihrer Schulleiterin Sister Aloysius (Jan Hirst), die schon lange den fortschrittlichen und weltoffenen Pater auf dem Kieker hat. Sister Aloysius vermutet, dass Flynn dem Jungen Alkohol gegeben, ihn vielleicht sogar missbraucht hat. Sie zieht ungesicherte Erkundigungen aus früheren Anstellungen des Paters ein und hört auch nur mit halbem Ohr den Ausführungen der Mutter des Kindes (Angelina O’selle) zu. Die ist nämlich sehr dankbar, dass ihr Sohn, das einzige schwarze Kind in der Klasse, begeistert von dem Pater und dessen Fürsorge erzählt, die er von seinem Vater und auch in der Schule vermisst. Je mehr Sister Aloysia im Gespräch auch mit dem Pater erfährt, desto mehr verbeißt sie sich in ihre Vermutungen, bis sie in ihren Augen zur Wahrheit werden.
John Patrick Shanley, 1950 in der New Yorker Bronx geboren und in einer christlichen Schule erzogen, hatte bereits einige Stücke geschrieben, bis „Doubt“ ihm schließlich mit 525 Vorstellungen am Broadway zum Durchbruch verhalf. 2005 erhielt er dafür den Pulitzer Preis (Drama) und den Tony Award für das beste Stück. 2008 verfasste er dazu das Drehbuch und führte Regie in dem gleichnamigen Film mit Meryl Streep als Sister Aloysia und Philip Seymour Hoffman als Father Flynn.
Ihr Strichmund hat das Lachen ganz und gar verlernt.
Um es gleich vorweg zu nehmen: Clifford Deans konzentrierte Inszenierung im English Theatre mit dem beeindruckend spielenden vierköpfigen Ensemble kann unbedingt mit der Filmversion mithalten. Das Licht (Heiko Böttner) setzt jeweils den Schwerpunkt auf drei verschiedene Orte auf der realistisch gestalteten Bühne (Mathias Wardeck): rechts eine Kanzel vor einem bunt verglasten Fenster als Kirche, in der Mitte der mit schweren Möbeln und gerahmten Fotos von John F. Kennedy und Papst Paul VI ausgestattete Raum von Sister Aloysia, rechts eine grüne Holztür mit Bank für den Garten. Glockengeläut leitet das Stück ein mit der ersten Predigt von Father Flynn. Es geht darin um die nach dem Mord an John F. Kennedy allgemein empfundene Unsicherheit und den Zweifel an bisherigen Wahrheiten. Brian Tynan strahlt hier bereits eine Zuversicht und eine Wärme aus, die er auch dann nicht verliert, wenn er zum Rapport bei Sister Aloysia gerufen wird. Sie gibt ihm vielmehr so viel Stärke, dass er nicht kleinbei gibt, sondern die Gespräche sogar noch dominiert. Jan Hirsts Aloysia ist eine vom Leben enttäuschte, bittere und den konservativen Regeln ihrer Schule zutiefst verpflichtete Frau. Einen wie Flynn, der den Kindern mit Zuwendung begegnet und die Kirche weltlicher machen will, sieht sie mit Argwohn, wenn nicht mit Abscheu, ihr Strichmund hat das Lachen ganz und gar verlernt. Es passt ihr gut, was ihr Sister James über Flynn berichtet. Naomi O’Taylor spielt sie als strahlende, gutgläubige junge Frau, die hilflos mitansehen muss, wie Aloysia ihre vorsichtige Vermutung für einen Rachefeldzug gegen Flynn ausnutzt. Aloysia lässt sich auch nicht durch den Besuch von Mrs. Muller, der Mutter des Jungen, beeindrucken. Angelina O’selle zeigt einfühlsam, wie ihr Sohn als einziges schwarzes Kind von anderen gemobbt wird, wie der Vater ihn zu Hause nicht zuletzt wegen seiner homosexuellen Neigung verprügelt und wie sehr er sich deshalb zu Father Flynn hingezogen fühlt, der sich als einziger um ihn kümmert. Auch sie kann erhobenen Hauptes Aloysias Raum verlassen, weil sie ihren Sohn kennt und ihm nichts Verwerfliches unterstellt.

Trotz fehlender Beweise wird Flynn am Ende die Schule verlassen, aber tatsächlich bei einer neuen Stelle beruflich aufsteigen. Zurück bleibt eine von Zweifeln erfüllte Sister Aloysia. Und die Zuschauer:innen? Können auf dem Heimweg mit wieder eingeschalteten Smartphones und dem Blick auf die frisch eingegangenen Social Media-Nachrichten darüber nachdenken, welche Konsequenzen es hat, wenn ungesicherte sogenannte Wahrheiten die Runde machen.
Weitere Informationen unter: https://eth-hamburg.de/2024/05/22/doubt/
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
Die Konsequenzen von ungesicherten Wahrheiten
Formale SchwerpunKte
- Realistische Spielweise
- Realistischen Bühnenbild
- Publikum in der Rolle der Kirchengemeinde bzw der Schüler:innenschaft
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
- Ab 16 Jahre, Klasse 10/11
- Empfohlen für den Englischunterricht
Zum Inhalt
Siehe ausführliche Beschreibung des Inhalts im Study Guide (s.u.)
Mögliche Vorbereitungen
Wie gewohnt gibt das English Theatre einen Study Guide, eine Materialmappe zur Vor- und Nachbereitung, heraus. Darin enthalten: Informationen zum Autor, Einschätzungen zum Stück, eine detaillierte Inhaltsangabe der einzelnen Szenen, Fragen zum Stück (Multiple Choice) sowie Fragestellungen für eine nachbereitendes Unterrichtsgespräch oder für schriftliche Aufgaben.
Zu finden unter: https://eth-hamburg.de/wp-content/uploads/2025/01/Study-Guide_Doubt.pdf
Speziell für den Theaterunterricht
Für Gruppen, die ihren Theaterunterricht in englischer Sprache gestalten, könnte die Übung „The Gossip“ zur Vorbereitung dienen:
Die Spielleitung teilt zwei gleich große Gruppen ein. Die Gruppen gehen in zwei unterschiedlichen Teilen des Raums durcheinander. Jeweils ein:e Spieler:in der Gruppe beginnt, einem/einer anderen Spielerin halblaut einen Satz ins Ohr zu flüstern (z.B: I saw his friend tonight), Spieler:in B sucht sich jetzt die/den nächsten:n und flüstert den Satz weiter, übertreibt dabei aber etwas (z.B. I saw his friend drunk tonight) usw . Jeder weiter gegebene Satz wird ungenauer, übertriebener dargestellt bis hin zur Absurdität.