Verfolgt werden und verfolgen, verstecken und aufspüren – Bei der Gruppe Nesterval wird das Publikum Teil der systematischen Verfolgung und Ermordung homosexueller und trans Menschen im Nationalsozialismus.
Die Kritik
Ein stetes Wummern, dazwischen rhythmische Schritte von Vielen. Eine Armee? Ein organisierter Schlägertrupp? Die Situation ist bedrohlich. Zumal in den dunklen, spärlich beleuchteten Gängen Uniformierte auftauchen, ihre Gesichter sind durch Masken unkenntlich gemacht. Von irgendwo weht Musik herüber, aus einer anderen Ecke gellen Schreie, verweben sich mit dem Wummern zu einer Kakophonie des Nationalsozialismus. Wir sind mittendrin in „Die Namenlosen – Verfolgt in Hamburg“, einer Koproduktion der queeren Wiener Theatergruppe Nesterval mit dem internationalen Sommerfestival Kampnagel (Regie und künstlerische Leitung: Martin Finnland). Thema dieses sorgfältig recherchierten dreistündigen Abends ist die systematische Verfolgung und Ermordung homosexueller und trans Menschen. Gespielt wird im Schuppen 29 am Baakenhöft, einem ehemaligen Kakaospeicher, unweit des Lohseparks, zur NS-Zeit die Deportationsstelle Hannoverscher Bahnhof. Der 2000qm große Speicher ist in 25 ganz unterschiedliche Räume geteilt, deren Zentrale die sogenannte im Stil der 30er Jahre eingerichtete Kantine mit Showbühne und Bartresen ist (Bühnenbild: Andrea Konrad). Hier sammelt sich anfangs das Publikum, hier wird es nach der Begrüßung der beiden Hosts (Géraldine Schábraque und im Wechsel Sarah Plochl mit Chris Pfannebecker) von den Charakteren des Stückes abgeholt.
„Pass auf dich auf!“
In kleinen Gruppen von ca 10 Personen folgen wir z.B. dem C. (Christopher Wurmdobler), einem sich ständig umschauenden, gehetzt und gleichermaßen verschüchtert wirkenden Boutiquebesitzer. Im Lauf des Abends werden wir versuchen, ihm zu helfen, seine Gedanken zu formulieren. Denn wir als Publikum werden von ihm gefragt, was er denn sagen soll, als plötzlich im Badehaus ein forsch auftretender Mann auftritt. Der C. vermutet, dass es sich um Karl Seiringer (Martin Walanka), einem Kommissar, handelt, der Homosexuelle aufspüren und verhaften soll. C.’s Unsicherheit geht unmerklich auf uns über. Durch die Form des immersiven Theaters, bei dem es keine vierte Wand, also keine Abgrenzung zwischen Darstellung und Publikum gibt, sind wir immer Teil des Spiels, erleben die Geschichte unmittelbar mit. Wir begegnen mit dem C. verschiedenen Menschen: Nazis wie der Blockwartin Anna Binder (Rita Brandneu) oder C.’s Angestellte K. (Chiara Seide), von der er vermutet, dass sie wie er zum Club der „Namenlosen“ gehört. Derjenigen also, die sich nur beim Anfangsbuchstaben nennen, um nicht entdeckt zu werden. „Pass auf dich auf!“, wird zur gängigen Abschiedsformel.
Durch die jeweiligen Begegnungen entstehen immer wieder neue Zusammenhänge, neue Geschichten. Jede*r im Publikum erlebt entsprechend dem oder der Charaktere – man darf wechseln – etwas anderes. Der Abend endet in einer dunklen Halle. Vor Sandhügeln mit Kreuzen und Grablichtern knien einige der Charaktere, ein Schriftzug auf einem Tor, ähnlich dem von Auschwitz, mahnt: Niemals vergessen – an die dahinterliegende Wand werden die Namen, Geburts- und Sterbedaten all der von den Nazis ermordeten homosexuellen und trans Menschen gebeamt. Dieser Abend wirkt lange nach. Man müsste ihn am besten gleich noch einmal sehen und einem anderen Charakter folgen.
Die Vorstellungen von „Die Namenlosen – Verfolgt in Deutschland“ sind bis zum 26. 08. ausverkauft. Es gibt allerdings eine Warteliste und Leute, die damit durchaus erfolgreich waren.
Näheres zum Internationalen Sommerfestival unter: https://kampnagel.de/internationales-sommerfestival