Der Titel ist Programm. „Sie sagt. Er sagt.“ Es gibt keine Gewichtung, es steht 1:1. Wem gibt man denn nun Recht? Der Ball liegt wie so oft in Stücken des Juristen Ferdinand von Schirach beim Publikum. Zu Axel Schneiders anspruchsvoller Inszenierung an den Hamburger Kammerspielen.

Die Kritik
Ein nüchterner Gerichtsaal: in der Mitte das Pult für den Richter, rechts und links ein Stuhl für den Angeklagten und die Nebenklägerin sowie Pulte für die Verteidigung und Staatsanwaltschaft, vorne ein Standmikrofon. Auf die Leinwand im Hintergrund projiziert eine Kamera die Gesichter derjenigen, die vorne stehen und aussagen (Bühne: Axel Schneider, Steffen Rottenkolber). Verhandelt wird die Klage der bekannten TV-Moderatorin Katharina Schlüter (Andrea Lüdke). Sie beschuldigt den Unternehmer Dr. Christian Thiede sie in seiner Wohnung vergewaltigt zu haben. Problematisch ist, dass sie zuvor einvernehmlich Sex miteinander hatten und Schlüter erst Tage später zur Polizei gegangen ist. Außerdem hatten beide eine vier Jahre dauernde heimliche Affäre, die dann abrupt beendet wurde, weil…? Da gibt es von beiden Seiten unterschiedliche Aussagen. Hatten sich beide mit gegenseitigem Einverständnis getrennt, weil beide eine Familie haben und nicht länger ein Doppelleben führen wollten? Oder hat nur Thiede die Beziehung beendet? Zufällig trafen sich beide nach dem offiziellen Ende auf der Straße wieder, gingen in Thiedes Wohnung, hatten Sex. Aber dann kam es zu der entscheidenden Situation.
„Ich kann das nicht mehr. Entschuldigung. Bitte hör auf!“
Ferdinand von Schirachs drittes Stück (nach „Terror“ und „Gott“) zielt nicht auf das Herz, sondern auf den Kopf des Publikums. Zuhören, mitdenken und Schlüsse ziehen ist hier gefragt. Vor gut einem Jahr hatte Matti Geschonneck das Drama verfilmt, danach ist es für die Bühne adaptiert worden. An den Kammerspielen hat Stine Kegel die Dialogregie übernommen, der knapp zweieinhalbstündige Abend (inklusive Pause) ist nicht zuletzt dadurch spannend gestaltet.
„Ich kann das nicht mehr. Entschuldigung. Bitte hör auf!“, habe Schlüter gesagt. Klar, und um Rationalität bemüht spricht Andrea Lüdke von der Beziehung zu Thiede. In ihrem blauen Hosenanzug (Kostüme: Sarah Yekani Zare) wirkt sie professionell, man nimmt ihr den Job als TV-Moderatorin ab. Ihre Stimme stockt jedoch ein wenig, wenn sie den Vorfall selbst beschreibt. Verletzungen sind zu spüren, zumal sie Thiede als ihre „großen Liebe“ bezeichnet und dabei etwas Träumerisch-Schwärmerisches in ihren Blick legt. Stumm und regungslos verfolgt Thiede (Dirk Hoener, alternierend Ingo Meß) Schlüters Aussagen. Erst am Ende des Prozesstages wird er gegen den Rat seiner Anwältin (kühl und überlegt: Lisa Karlström) seine Version darstellen und dabei genauso glaubwürdig wirken wie Schlüter.
Ein trockenes Gerichtsdrama? Keineswegs.
„Sie sagt. Er sagt.“ ist ein Gerichtsdrama. Das bedeutet, statt einer sichtbaren Handlung gibt es lediglich Schilderungen von Zeug:innen, der Nebenklägerin und dem Angeklagten sowie Fragen und Plädoyers der jeweiligen Verteidigung gibt. Trocken also? Keineswegs.
Franz-Joseph Dieken als Schlüters Rechtsanwalt Biegler sorgt mit seiner unkonventionellen Art und seinen flapsigen Zwischenrufen durchaus für Unterhaltung und bietet einen Kontrast zu Thiedes nüchternen, präzise formulierenden Rechtsanwältin Breslau. Etwas fahrig wirkt zeitweise der vorsitzende Richter (Pierre Sanoussi-Bliss, alternierend mit Sewan Latchinian) vor allem dann, wenn ihm plötzlich eine unangekündigte Zeugin wie die Taxifahrerin (in allen Rollen differenziert und überzeugend: Katrin Gerken) angekündigt wird. Szenenapplaus erhält Antje Otterson (auch als Kriminalhauptkommissarin und Oberstaatsanwältin)), wenn sie als psychologische Sachverständige das „Idealbild der Vergewaltigung“ darstellt, so wie es klischeehaft allgemein gesehen wird und wie es überhaupt nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt.
Mit den Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung („schuldig“ – „nicht schuldig“) glaubt man ans Ende des Prozesses gelangt zu sein. Doch dann soll Thiedes Frau sich kurzfristig telefonisch geäußert haben. Der Prozess wird vertagt, die Zuschauer:innen müssen selbst überlegen, wie sie entscheiden würden. Damit nimmt von Schirach das Publikum in die Pflicht. Berieseln lassen kann es sich woanders, hier gilt es, über einen komplizierten, keineswegs eindeutigen Sachverhalt nachzudenken, Argumente abzuwägen und Entscheidungen zu fällen.
Weitere Informationen unter: https://hamburger-kammerspiele.de/programm/sie-sagt-er-sagt/
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- Ist die Anklage wegen Vergewaltigung gerechtfertigt?
Formale SchwerpunKte
Gerichtsverhandlung:
- Darstellung des Sachverhalts aus zwei Perspektiven
- Gegenüberstellung von Argumenten und Aussagen
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
- Ab 16 Jahre, ab Klasse 10
- Empfohlen für den Ethik-, Deutsch- und PGW-Unterricht
Zum Inhalt
Die bekannte TV-Moderatorin Katharina Schlüter beschuldigt den Unternehmer Christian Thiede sie in seiner Wohnung vergewaltigt zu haben, nachdem beide zuvor einvernehmlichen Sex hatten. Im Strafprozess des Berliner Landgerichts steht Aussage gegen Aussage, verschiedene sachverständige und weitere Zeugen werden gehört. Staatsanwaltschaft und Verteidigung plädieren am Ende jeweils auf „schuldig“ bzw „nicht schuldig“, bis plötzlich eine neue Zeugenaussage wieder alles in Frage stellt und auf der Bühne kein Urteil gefällt wird.
Mögliche Vorbereitungen
Recherche zu
- Sexuellen Übergriffen und deren Konsequenzen
- Aussage gegen Aussage (u.a. unter: https:// www.sexualstrafrecht.hamburg/aussage-gegen-aussage)
- Kognitiven Verzerrungen im Strafverfahren (u.a. unter: https://www.ve-strafrecht.de/kognitive-verzerrungen-strafverfahren/)
Im Unterrichtsgespräch:
- Lassen sich sexuelle Übergriffe eindeutig nachweisen? Wo liegen die Probleme?