„Wir wären nicht da, wo wir sind, wenn wir uns nicht manchmal die Hände schmutzig machten.“ Ein Satz aus der „Dreigroschenoper“? Nein, auch „Die Carmen von St. Pauli“ muss in einem System überleben, in dem Kapitalisten mit illegalen Machenschaften noch reicher und Arme noch ärmer werden. Schmallippig ist die Sozialkritik jedoch nicht in Peter Jordans und Leonhard Koppelmanns neuer Produktion am St. Pauli Theater. Als Revue ist sie ein unverfrorener Mix aus neu arrangierten Opernarien, furiosen Tanzeinlagen und einer Geschichte rund Verlierer und Gewinner.
Die Kritik
In Zeiten wie diesen sehnen wir uns nach Wärme und Beständigkeit. Da tut es gut, wenn jemand wie der Kneipenwirt Pastia (Stephan Schad) breitbeinig feststellt: „St. Pauli soll immer St. Pauli bleiben.“ Ist so – Widerrede gibt es nicht. Pastia ist nicht unbedingt Sympathieträger in Peter Jordans und Leonhard Koppelmanns Revue „Die Carmen von St. Pauli“. Er befehligt die „Hafenratten“, eine Truppe von Kleingangstern, die mit ein paar Tricks Touristen ausnehmen und auch sonst kriminellen Handlungen gegenüber aufgeschlossen sind. Aber es sind eben die von der Gesellschaft Benachteiligten, die irgendwie ums Überleben kämpfen. Für die bietet Pastias Kneipe einen Ankerplatz, er selbst vertritt Hamburger Knorrigkeit und ist damit ein Fels in der Brandung.
Mit „Die Carmen von St. Pauli“ hat sich das Duo Jordan/Koppelmann nach seiner erfolgreichen Version von Brechts „Dreigroschenoper“ erneut an einen Stoff aus den 1920er Jahren gemacht und damit die Parallele zur aktuellen gesellschaftlichen Situation zu ziehen versucht. Grundlage für die Handlung liefert der gleichnamige Stummfilm von Erich Waschneck und Bobby Lüthje. Die Musik aus Georges Bizets Oper „Carmen“ haben Matthias Stölzel und Uwe Granitza für ein achtköpfiges Ensemble inszeniert, das sich in dem durchaus engen St. Pauli Theater in den Graben vor der Bühne und in zwei Logen quetscht. Der Vorhang ist geschlossen, die Instrumente werden gestimmt, Maestro Uwe Granitza erscheint und erhält Applaus. Alles wie in einer richtigen Oper. Nur wird die bekannte Ouvertüre deutlich schräger und jazziger arrangiert, der Kiez der ausgehenden 20er Jahre verschafft sich jetzt schon Gehör. Mit dem Öffnen des Vorhangs tauchen wir dort endgültig ein. Schwarzweiß-Projektionen von Filmen und Fotos (Video: Enrico Rode, Martin Maleßa) beleben den Hintergrund, erweitern die kleine, klugerweise leer gelassene Bühne zu einem Kosmos rund um den Hafen. Ortswechsel können diese Projektionen ebenso gestalten wie die wenigen charakteristischen Requisiten, die die Schauspieler:innen für ihre Szene herein- und und wieder herausfahren.
Carmen heißt eigentlich Jenny Hummel und stammt aus Bramfeld.
Wie die rostige Reling, an die sich der Seemann Klaus Brandt (Holger Dexne) an diesem kalten nebligen Tag lehnt und Wache schiebt. Schiffsladungen sind in letzter Zeit gestohlen und irgendwo wieder vertickt worden, Brandt soll im Auftrag seines Reeders Rasmussen (Götz Otto) versuchen, die Diebe zu stellen. Tatsächlich macht er eine schwarz gekleidete Gestalt aus, die sich katzenhaft zu verstecken versucht. Nachdem er sie zu Boden gebracht hat, muss er erkennen, dass es sich hier um eine junge Frau handelt. Unter ihrer schwarzen Jacke trägt sie ein pinkes glitzerndes Oberteil (Kostüme: Barbara Aigner), ihre Augen sind grell geschminkt und ihr Name ist Carmen. Dass sie eigentlich Jenny Hummel heißt und aus Bramfeld stammt, ist egal. Leichten Herzens verlässt sie später Hafenmeister Hansen (Patrick Heyn), der sich mit ihr eine Zukunft in Südamerika ausgemalt hat. In unsicheren Zeiten, am Rand der Gesellschaft denkt Carmen nur an sich und hat sich mit dem neuen Namen ein eigenes Selbst geschafften. Anneke Schwabe spielt sie als selbstbewusstes, mit allen Wassern gewaschene Mädchen aus dem Milieu, das mit den „Hafenratten“ gemeinsame Sache macht, um zu überleben. Mühelos singt sie bekannte Arien aus der Oper, wobei ihr wie auch allen anderen Darsteller:innen die ruppigen, an Brecht/Weill erinnernden Arrangements zugute oder besser zu Hilfe kommen. Der unbescholtene Klaus Brandt verliebt sich Hals über Kopf in diese schillernde Frau, verlässt ihretwegen seine brave, in der Heilsarmee engagierte Verlobte Maria (Victoria Fleer) und folgt Carmen in die Unterwelt.
Allerdings notgedrungen, denn Brandt ist von einer Sekunde auf die nächste von Rasmussen entlassen worden. Mit dieser Figur gestaltet Jordan, als Autor maßgeblich für die Fassung verantwortlich, einen Gegenpol zu Brandt. Rasmussen ist bei Otto ein zynischer Kapitalist mit Grundsätzen wie „Jeder ist seines Glückes eigenes Schwein.“ Natürlich hat er Kontakte zur Halbwelt. Seine Frau Elsa (Nadja Petri) ist quasi eine Kollegin von Carmen, er selbst benutzt die „Hafenratten“ für seine Zwecke. Dass das Paar manchmal mit den Trumps (gesprochen mit ‚u‘) zu Abend isst, unterstreicht etwas überdeutlich seine Skrupellosigkeit, bei der ein Mensch nichts und und Geld alles ist. „Auf in den Kampf, denn mir gehört die Welt“ – das ist seine Arie, sein Credo.
Vieles an Rasmussens Figur und an der Darstellung der Halbwelt erinnert an „Die Dreigroschenoper“. Jordan/Koppelmann lassen auch hier das fantastische Tanz-Ensemble (Choreographie: Harald Kratochwil) als Matrosen, Gangster, Revue-Girls oder Nachtclub-Besucher für die entsprechende Atmosphäre sorgen. Das gibt dem zweieinhalbstündigen Abend (inklusive Pause) Schwung und Farbe, der vor allem nach der Pause noch einmal richtig Gas gibt. Am Premierenabend klatschte ein begeistertes Publikum bei der Zugabe mit zu Rasmussens „Auf in den Kampf, denn mir gehört die Welt“. Möge jeder die Ironie bemerkt haben.
Weitere Informationen unter: https://www.st-pauli-theater.de/programm/die-carmen-von-st-pauli/
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- Überleben in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten
- Illegale Machenschaften von Kapitalisten
- Liebe als Rettungsanker
Formale SchwerpunKte
- Film- und Fotoprojektionen als Bühnenbild
- Tanz-Einlagen mit unterschiedlichen Kostümen zur Darstellung eines Ortes/ einer Atmosphäre
- Neue Arrangements von Opern-Arien für ein achtköpfiges Ensemble
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
- ab 15/ 16 Jahre, ab Klasse 10
- empfohlen für den Musik- und Theaterunterricht
ZUM INHALT
Hamburg 1927. Der Seemann Klaus Brandt muss auf dem Schiff des Reeders Rasmussen Wache schieben, weil nachts immer mal wieder Ladung gestohlen und an anderer Stelle wieder verkauft wird. Brandt sieht einen vermeintlichen Dieb, erkennt dann aber, dass es sich um eine reizvolle junge Frau handelt. Sie stellt sich als „Carmen“ vor und erklärt, dass sie eigentlich nur ums Überleben kämpft und deshalb stiehlt. Sie weiß aber auch, wie sie Brandt um den Finger wickeln kann. Statt also Anzeige zu erstatten, verliebt sich der pflichtbewusste Klaus in Carmen und folgt ihr in ihre Stammkneipe. Der dortige Wirt erklärt ihm erstmal, dass sie eigentlich Jenny Hummel heißt und aus Bramfeld stammt, aber das stört Brandt nicht. Er ist von dieser Frau fasziniert und kann das auch vor seiner Verlobten Maria nicht verbergen. Dennoch verspricht er, sie zu heiraten, sobald er genug Geld gespart hat und zum Steuermann ernannt worden ist. Sein Arbeitgeber, der Reeder Rasmussen, ist jedoch ein skrupelloser Kapitalist mit Kontakten zur Unterwelt. Die Diebstähle auf seinem Schiff lässt er durch die „Hafenratten“ vornehmen, einer Truppe von Kleingangstern, mit denen Carmen auch am Hafen Touristen ausnimmt. Das gestohlene Gut wird anderweitig verkauft, der Diebstahl selbst bei der Polizei gemeldet. Und weil Brandt die angeblichen Diebe nicht ausfindig gemacht hat, wird er mir nichts dir nichts entlassen. Brandt findet sich mittellos auf der Straße wieder. Sein bürgerliches Leben ist vorbei, also kann er gleich bei Carmen und den „Hafenratten“ mitmachen. Allerdings taucht plötzlich seine Verlobte auf und beginnt mit Carmen in einem Radrennen um Klaus Brandt zu kämpfen. Die Geschichte führt für Brandt zu einem glücklichen Ende. Aber Leute wie Rasmussen kommen davon.
Mögliche Vorbereitungen
- Recherche zu Georges Bizets Oper „Carmen“ (Libretto, einzelne Arien)
- Recherche zum Stummfilm „Die Carmen von St. Pauli“ (evtl. Ansehen des Films)
- Recherche zur gesellschaftlichen Situation am Ende der 1920er Jahre und 2020er Jahre
- Recherche zum Begriff „Revue“
Im Unterrichtsgespräch:
Besprechung der Ergebnisse
Speziell für den Theaterunterricht
Es gibt mehrere Kampfszenen in dieser Inszenierung.
Grundsätzlich gilt, dass der Nehmende den Schmerz anzeigt und der Gebende die Gewalt nur andeutet.
Zeitlupenkampf
Zwei Spieler:innen (A/B) stehen einander gegenüber. A versetzt in Zeitlupe B einen Schlag (z.B. in den Bauch) , B reagiert in Zeitlupe (z.B. verzerrtes Gesicht, krümmt sich) und holt dann zum Gegenschlag oder -tritt aus, worauf A reagiert und wiederum einen neuen Angriff startet. All das geschieht in extremer Zeitlupe, damit die Bewegungen genau ausgeführt werden können. So ergibt sich ein ganzer Kampf.
Möglich ist, dass die gesamte Gruppe in Paaren den Zeitlupenkampf ausführt und zwei Beobachtende später Feedback zu dessen Wirkung geben.
Übungen zum Bühnenkampf
Ohrfeigen
Zwei Spieler:innen (A/B) stehen einander auf Armlänge gegenüber. A holt zu einer Ohrfeige aus (der Abstand muss so sein, dass der Kopf von B nicht berührt wird), B klatscht in die Hände, wenn der Schlag das Gesicht (angeblich) berührt und wirft den Kopf zur entsprechenden Seite (Schlag kommt rechts, Kopf geht nach links). Mehrmals wiederholen. Die Spieler:innen müssen sich zum Publikum so positionieren, dass B von A verdeckt wird und nur der vom Schlag getroffene Kopf zu sehen ist.
An den Haaren ziehen
A und B kämpfen im Zeitlupenkampf, A geht zu Boden, B greift (vorsichtig) in A’s Haare, zieht es nach oben, A verzieht das Gesicht, geht mit dem Kopf nach oben.
Mehrmals wiederholen.
Die Übungen aus dem Zeitlupenkampf können auch schneller gestaltet werden. Geräusche (z.B. mit der Hand auf den Boden schlagen) um einen Schlag zu illustrieren, können dabei eingesetzt werden