Ein einsames Bergdorf im Nebel ohne Zugang zur restlichen Welt – und wir als zwölfjährige Kinder mittendrin. Zur Uraufführung von SIGNAs düsterer Performance-Installation mit dem Hamburger Schauspielhaus.
Die Kritik
Die erste Herausforderung ist, den richtigen Eingang zu finden. Pünktlichkeit ist dringend erwünscht. Wer nicht bis spätestens18:10 Uhr erschienen ist, wird nicht mehr eingelassen, heißt es in den Vorab-Informationen des Schauspielhauses. Aber Ende Oktober ist es um diese Zeit schon ziemlich schummrig und das ehemalige ThyssenKrupp-Gelände in der Waidmannstarße sieht verwaist und unwirtlich aus. Wo genau ist denn jetzt der Eingang zu Halle 7? Dort nämlich soll „Das 13. Jahr“ stattfinden, die Performance-Installation von SIGNA. Ein Schild mit dem Logo des Deutschen Schauspielhauses hilft schließlich bei der Orientierung hin zu einer Luke in dem riesigen Komplex. Dort lässt sich eine freundliche Mitarbeiterin das Ticket zeigen und nimmt Garderobe, Handy, Taschen, kurz: alles, was einen eben noch definiert oder vor Kälte geschützt hat, ab. Weiter geht es rechts durchs Gebäude in einen mit vierzig Stühlen (maximal so viele Personen sind für die Performance zugelassen) ausgestatteten nüchternen Aufenthaltstraum, auf dessen Stirnseite das Video einer nebligen Gebirgslandschaft zu sehen ist. Pünktlich zum offiziellen Vorstellungsbeginn um 18:30 Uhr erscheinen drei streng blickende Personen in grauer Kleidung (Kostüme: Tristan Kold, Signa Köstler), schlagartig wird es ruhig im eben noch aufgeregt schnatternden Publikum. Die Drei stellen sich als Teil des Simulations-Teams von „Lethe Simulationswelten“ vor und geben ähnlich wie Flugbegleitende beim Start Hinweise zum richtigen Verhalten und möglichem individuellen Stopp der Performance. Ganz wichtig: Wir sollen in unser zwölfjähriges Ich eintauchen und dabei nicht schauspielern, sondern ganz und gar diesem Alter nachfühlen und entsprechend handeln. Gar nicht einfach, aber das genau ist die zweite, die eigentliche Herausforderung.
Eine Stimme aus dem Off erzählt, dass der Bus gestrandet und der Fahrer auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist.
Unheimliche Geräusche begleiten uns durch schmale Gänge. Wir sind nicht mehr Zuschauer:innen, wir betrachten nicht von außen, sondern sind Teil der Performance. Diese Form, das immersive Theater, praktiziert SIGNA seit seiner Gründung im Jahr 2001. Das muss man wissen und wollen, aber genau dieses unmittelbare Miterleben suchen offenbar eine ganze Menge Leute. Die Lust auf das Ungewöhnliche, Eventmäßige zieht auch diejenigen an, die sonst selten oder gar nicht ins Theater gehen. Jedenfalls sind alle Vorstellungen bis zum 20. Dezember im Nu ausverkauft. Gruseliges wird auf dem Weg zum eigentlichen Ort, dem Bergdorf, vorbereitet: Wind heult (Sounddesign: Christian Bo Johansen) und eine Stimme aus dem Off erzählt, dass der Bus, mit dem wir als Kindergruppe unterwegs waren, gestrandet und der Fahrer auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist. Wir betreten das Bergdorf: Signa Köstler, Lorenz Vetter und Tristan Kold haben eine riesige Halle zu einem Dorf mit zehn geduckten grauen Hütten gestaltet. Der Weg ist uneben, Nebelschwaden ziehen vorbei, schwarze Bergkuppen und ein fahles Licht umgrenzen das Dorf. An den Hauswänden sitzen verrenkte Gestalten mit gespenstisch weit geöffneten toten Augen auf kaputten Plastikstühlen oder glotzen aus den Fenstern der spärlich beleuchteten Innenräume. Zwölfjährige, die wir nun auf einmal sind, beeindruckt das. Ein jüngeres Ich würde vor Angst vielleicht gar nicht weitergehen und auch später in den Familien eher ängstlich verstummen, ein 15- oder 16jähriges könnte auf dem Weg und in den Familien eventuell hysterischer oder distanzierter reagieren. Die Idee uns auf der Schwelle zur Pubertät zu verorten, erscheint daher gut gewählt. Zwölfjährige lassen sich noch verzaubern, beobachten aber auch und fragen nach. Wir stolpern also unsicher, gleichzeitig neugierig durch das Dorf, bis ein paar Bewohner – hier handelt es sich um Ensemblemitglieder des Schauspielhauses und Schauspielende der SIGNA-Gruppe – willkürlich jeweils vier von uns greifen und sie als ihre „Notkinder“ in ihre Hütten ziehen. Fürsorglich drängt man uns, die eigenen, angeblich nassen Sachen auszuziehen und gegen Kleidung aus dem Haus zu tauschen. Diese Mitmenschlichkeit und die Bereitschaft, auch das Ärmlichste wie die dünne Suppe oder den einzigen Schlafplatz zu teilen, lässt das Vertrauen in die Bewohner wachsen. Aber schon bald erfahren wir über Andeutungen von lauernden Gefahren – die Farbe Rot darf auf keinen Fall auftauchen („ist zu gefährlich“) -, seltsamen Krankheiten, unterschwelligen Konflikten und den Auswirkungen des hier herrschenden Aberglaubens.
Ein „Ping!“ kündigt eine zweiminütige Simulationsunterbrechung an.
Wer bis dahin immer noch Distanz zu dem Ganzen gewahrt hat, wird spätestens nach einer Stunde bemerken, wie sich zwischen den teilnehmenden „Notkindern“, die man ja vorher gar nicht kannte, eine Solidarität entwickelt. Auch zu den Mitgliedern der Familie baut sich allmählich ein Verhältnis auf. Je länger der Abend dauert (insgesamt sind es fünfeinhalb Stunden), desto mehr versinken die meisten von uns in diesem Spiel und fragen und agieren als Zwölfjährige. Deshalb ist es umso erstaunlicher, dass ab und an ein Abgeordneter des Simulationsteams in einer Hütte erscheint und mit einem „Ping!“ eine zweiminütige „Simulationsunterbrechung“ ankündigt. Das bedeutet, dass wir wieder zurückkehren in unser wahres Alter und Fragen zum Ablauf der Simulation beantworten müssen. Merkwürdig auch, dass diese Unterbrechungen auch Einzelne trifft, die dann in einen Raum oberhalb des Dorfes geführt werden und ebenfalls die Simulation beurteilen sollen. Die Frage, wie gut man sich in sein zwölfjähriges Ich versetzen kann, ist dabei fast überflüssig, reißt einen doch gerade diese Simulationsunterbrechung aus dem Spiel heraus. Das Team ist offenbar auf einer Ebene zwischen simulierter Dorf-Welt und der Realität in Hamburg 2023 angesiedelt, allerdings bleibt dessen Funktion unklar.
Welche Erfahrung bleibt am Ende des Abends?
Seit Beginn ihrer Intendanz am Hamburger Schauspielhaus hat Karin Beier fünfmal mit SIGNA zusammengearbeitet. Deren Prinzip der Entgrenzung zeigte sich eindringlich in unterschiedlichen Performances wie „Schwarze Augen Maria“ (2013/14), „Söhne & Söhne („2015), „Das halbe Leid“ (2017) und dem zum Berliner Theatertreffen eingeladenen „Die Ruhe“ (2021/22). Mit „Das 13. Jahr“ simuliert SIGNA das Leben in einer Dorfgemeinschaft, quasi als Kontrapunkt zur „ANTHROPOLIS“- Serie im Schauspielhaus, das die Stadtgesellschaft zum Thema hat. Aber welche Erfahrung bleibt am Ende des Abends? Bei „Söhne & Söhne“ beispielsweise erlebte man am eigenen Leib die Auswahl der Angestellten bei einer sektenhafte Firma, bei „Das halbe Leid“ das unsichere und gefährliche Leben von Obdachlosen. Und hier? Das Leben in einem abgeschlossenen Bergdorf lässt Ängste, Konflikte und Aberglaube entstehen – ein Extrembeispiel, das sich schwer verallgemeinern lässt und dessen Erkenntnisgewinn anders als bei den vorangegangenen Produktionen vergleichsweise gering ist. So bleibt „Das 13. Jahr“ nur ein beeindruckender, etwas zu langer Abend. Aber das ist ja auch schon etwas.
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
„Das 13. Jahr“ ist zur Zeit bis zum 20. Dezember ausverkauft, Gruppenkarten für Schulklassen gibt es nicht.
Dennoch können sich Lehrkräfte über die Arbeitsweise von SIGNA in Schleswig-Holstein informieren. Das IQSH und der Förderverband Darstellendes Spiel bieten vom 12.-14. Januar 2024 in der Jugendherberge Kiel einen gemeinsamen Workshop „Immersives Theater nach SIGNA“ an. Zu buchen unter: Formix, DSP0382.