Begehren, Liebe, Kampf und Tod – analoge und digitale Welt vermischen sich in einem kraftvollen Abend. Zur Weltpremiere der französischen Compagnie (La) Horde beim internationalen Sommerfestival auf Kampnagel.
Die Kritik
Eine leere Betonfläche, rechts eine Stahltreppe mit Austritt, darunter ein Haufen unordentlich gestapelter Kartons, hinter einem Vorhang die Konturen eines Autos. Die Bühne der K6 auf Kampnagel, gestaltet von Julien Peissel, hat den Charme eines Hinterhofs irgendwo in einem Gewerbegebiet. Hundegebell ist zu hören, wird massiver. Das Auto oder besser: dessen Stahlskelett schiebt sich langsam aus dem Vorhang. Eine Gestalt, durch den grauweißen Ganzkörperanzug mit Kapuze an einen Avatar erinnernd (Kostüme: Salomé Poloudenny) nähert sich vorsichtig und besteigt das Auto. Es beginnt ein Spiel, ein Tanz zwischen Begehren, Zurückweisung, Kampf und Sex, zu dem sich immer mehr gleichkostümierte Gestalten gesellen und diese anfänglich Choreografie zu einem mächtigen Gesamtbild verstärken.
„Age of Content“ heißt die 75minütige Arbeit, mit der die französische Compagnie (La )Horde das diesjährige Internationale Sommerfestival auf Kampnagel eröffnet hat. Eine Weltpremiere, die von Hamburg aus ihren Weg nehmen wird. Die Grenzen zwischen der analogen Offline-Welt und der digitalen, virtuellen verschwimmen in dieser Produktion, ohne dass Video-Einspielungen bemüht werden. Vielmehr haben Marine Brutti, Jonathan Debrouwer und Arthur Havel, der Kern von (La) Horde, zusammen mit 16 Tänzer*innen des Ballet national de Marseille eine Mischung aus Tanz, Kampfsport und Stunts entwickelt, die dieses unmerkliche Ineinander beider Welten darstellt und damit unsere aktuelle Wirklichkeit spiegelt.
„Heaven can wait. Let’s dance for a while!“
Ein Gegenstand fällt mit einem „Plopp“ von der Bühnendecke. Der Vorhang wird weggezogen und gibt den Blick frei auf einen dunklen, vulkanartigen Hintergrund mit rotem Feuerschein. Gestalten mit vorgeschobenem Unterkörper und eingeknickten Beinen bewegen sich wie im Computerspiel über die Bühne. Auch hier findet sich wieder das Umkreisen, Bedrohen und Begehren, mal in der Paarkonstellation, mal in kleinen und dann wieder in großen Gruppen. Ein immer machtvoller werdender sakraler Gesang stellt eine zusätzliche Spannung zu den Bewegungen her.
Der Sex zwischen einem Paar, nunmehr durch die Kostüme als Menschen aus der analogen Welt zu erkennen, endet mit dem Tod (?) des Partners. Sie, im Glitzeroberteil, verlässt erhobenen Hauptes die Bühne, er bleibt ausgestreckt und einsam zurück. Stille. Leere. Mechanisch zieht eine mit mathematischem Abstand gestaltete Reihe von Tänzer*innen den Vorhang wieder zu, geht wie in einer Bandschleife dahinter vorbei, um vorne in derselben Gangart und Haltung wieder aufzutauchen. Die Kostüme weisen sie als Menschen unterschiedlichen Geschlechts aus, aber sie bewegen sich wie ferngesteuerte Avatare. Bis plötzlich einer ausschert. Eine fröhliche, wilde Musik erklingt und der Mann beginnt zu sich zu drehen, herumzuwirbeln. Er wirft die Arme in die Luft, lacht, ist Lebensfreude pur – und nach und nach kommen all die anderen dazu. „Heaven can wait. Let’s dance for a while“, hatte eine Stimme zuvor eingesprochen. Stimmt. Was für ein großartiger Abend!
„Age oft Content“ gastiert noch bis zum 12. August auf Kampnagel. Aktuell sind zwar keine Tickets mehr verfügbar, aber versuchen sollte man es dennoch. Es gibt immer mal Leute, die ihre Karten nicht wahrnehmen können…
Weitere Informationen zum Sommerfestival unter https://kampnagel.de/reihen/internationales-sommerfestival-2023