Novecento – De Geschicht vun den Ozeanpianist

Das Leben eine einzige Sehnsucht. Die Erfüllung der Träume? Lieber nicht. Könnte schief gehen und zu maximaler Enttäuschung führen. Deshalb bleibt der Pianist Novecento auf  seinem Schiff bis zum Tod. Zu Jasper Brandis’ wunderbar zarter Inszenierung von Alessandro Bariccos „Novecento – De Geschichte vun den Ozeanpianist“ als plattdeutsche Erstaufführung im Studio des Ohnsorg Theaters.

Novecento (Holger Dexne) versucht einen Landgang (re: Mario Ramos) – Foto: Sinje Hasheider

Die Kritik

Ein Halbrund aus Koffern jeglicher Größe, darunter zwei mannshohe Schrankkoffer, umrahmen eine auf den Boden gemalte Windrose. Mit dieser Gestaltung der Bühne greift der kürzlich verstorbene Andreas Freichels in seiner letzte Arbeit das zentrale Motiv von „Novecento – De Geschichte vun den Ozeanpianist“ auf: die lebenslange Reise dieses seltsamen Künstlers, der bis zu seinem Tod das Schiff, auf dem er als Baby gefunden wurde, nicht verlassen hat. 

Im Studio des Ohnsorg Theaters hat Jasper Brandis den von Cornelia Ehlers ins Plattdeutsche übertragenen Monolog inszeniert. Es ist die plattdeutsche Erstaufführung des 1994 veröffentlichten Textes von Alessandro Baricco, der damit in seinem Heimatland Italien enorme Erfolge verbuchen und die Postmoderne maßgeblich beeinflussen konnte. 

Der fiktive Titelheld Danny Boodman T.D. Lemon Novecento, so sein vollständiger Name, ist eine beinahe unwirkliche Figur. Einer, der ohne Bildung oder Einflüsse von jenseits der „Virginian“(dem Passagierschiff, auf dem er gefunden worden ist), sein Leben aus einer Sehnsucht heraus gestaltet. Sicher, er kann fremde Städte und Landschaften minutiös beschreiben, aber er misst diese Bilder nicht an der Wirklichkeit. Kein einziges Mal geht er in mehr als dreißig Jahren von Bord. Das Schiff schützt ihn vor einer Welt, nach der er sich sehnt und die er gleichzeitig fürchtet. 

Natürlich erzählt hier nur eine Person, aber sie muss auch alle die Figuren darstellen, die in ihrem und Novecentos Leben eine Rolle spielen.

Erzählt wird seine Geschichte als Monolog von dem ebenfalls fiktiven Trompeter Tim Tooney. Er wird in einer Sturmnacht zum besten Freund Novecentos, der ihm seine Geschichte schenkt, so dass Tooney sie weitertragen kann. Aber was heißt schon Monolog? Natürlich erzählt hier nur eine Person, aber sie muss auch alle die Figuren darstellen, die in ihrem und Novecentos Leben eine Rolle spielen. Brandis hat den Erzähler mit dem brillanten Holger Dexne (u.a. im Ohnsorg Studio als „Beckmann“ in „Draußen vor der Tür“) besetzt. Dexne saugt das Publikum von der ersten Minute in die Geschichte hinein. Jovial stellt er anfangs die Band auf der „Virginian“ vor, die Band, in der sein Freund Novecento Pianist ist. Musiker Mario Ramos ahmt dafür wie selbstverständlich (und urkomisch) Klarinette, Banjo, Posaune, Klavier und Trompete nach. Den 90minütigen Abends begleitet er mit der E-Gitarre und dient Dexnes Tooney als ironisch-augenzwinkernder Sidekick. Dexne verwebt Tooneys Erzählung mit Szenen, in denen die unterschiedlichsten Figuren lebendig werden. Er verwandelt sich vom Erzähler zum dröhnenden irischen Matrosen, zum arroganten selbsternannten „Erfinder des Jazz“, zum scheuen Novecento. Er taumelt und fällt durch den Raum, als er von der Sturmnacht erzählt, in der Tooney und Novecento einander zum ersten Mal begegnen. Dexne gelingt es, die daraus entstehende Freundschaft  in ihrer ganzen Innigkeit und Vielfalt zu schildern: die Bewunderung des Genies, die Darstellung von dessen Schlichtheit, die Raffinesse, mit der Novecento das Klavier-Duell mit Jelly Roll Morton, dem „Erfinder des Jazz“, gewinnt und schließlich die zarte, unpathetische Beschreibung des letzten gemeinsame Spiels zwischen Tooney und Novecento, bevor sie sich in den 30er Jahren aus den Augen verlieren. 

Tooney erzählt vom „Erfinder des Jazz“ (v.li: Holger Dexne ,Mario Ramos) – Foto: Sinje Hasheider

Plattdeutsch hat eine Wärme und Bodenständigkeit, die der Inszenierung guttut. Vielleicht berührt sie dadurch sogar umso mehr – und auch diejenigen, die in dieser Mundart nicht so zu Hause sind, verstehen ganz und gar, was es auf sich hat mit diesem Mann, der seine Träume nie wirklich erfüllt und nur durch die Sehnsucht glücklich ist. Wirklich ein wunderbarer Abend! 

Weitere Informationen unter: https://www.ohnsorg.de/events/novecento-de-geschicht-vun-den-ozeanpianist/

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Sehnsucht und Fantasie
  • Angst vor Enttäuschung
  • Freundschaft
Formale SchwerpunKte
  • Übernahme verschiedener Rollen durch einen Schauspieler
  • Darstellen verschiedener Szenen innerhalb eines Erzähltextes
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
  • Ab 16 Jahre, ab Klasse 10/11
  • Empfohlen vor allem für Klassen/Kurse, die mit dem Plattdeutschen vertraut sind, da fast der gesamte Monolog plattdeutsch ist.
Zum Inhalt

Der Trompeter Tim Tooney lernt auf dem Passagierschiff „Virginian“ in einer Sturmnacht den Pianisten Danny Boodman T.D. Lemon Novecento kennen, ein seltsames musikalisches Genie, das es durch sein ganz besonderes und sensibles Klavierspiel zu Weltruhm gebracht hat. Zwischen den beiden Musikern entwickelt sich eine enge Freundschaft, von der Tooney nach Novecentos Tod erzählt. 

Novecento ist als Säugling ohne Eltern auf der „Virginian“ von dem Matrosen Danny Bodman gefunden worden. Der gibt ihm seinen Namen und, da man sich am Beginn des letzten Jahrhunderts befindet, den Zusatznamen „“Novecento“, was so viel wie „neues Jahrhundert“ bedeutet. Als Danny stirbt, verschwindet Novecento für einige Zeit auf dem Schiff und taucht erst als junger Mann wieder auf, der unglaublich gut Klavier spielen kann. Schnell wird er in der ganzen Welt bekannt und gewinnt auch locker ein Klavier-Duell mit Jelly Roll Morton, dem selbsternannten Erfinder des Jazz, aber er verlässt das Schiff nicht. Zwar kann er alle Städte dieser Welt beschreiben, aber er hat nie einen Fuß in sie gesetzt. Nur seine Fantasie trägt ihn. Nachdem Tooney Mitte der Dreißiger Jahre das Schiff verlassen und Novecento aus den Augen verloren hat, trifft er ihn am Ende des Zweiten Weltkriegs in Plymouth auf der „Virginian“ wieder. Das Schiff ist voller Dynamit und soll zu Kriegszwecken eingesetzt werden, aber Novecento bleibt und geht mit der „Virginian“ unter.

Mögliche Vorbereitungen

Recherche zu Alessandro Baricco: Novecento (Inhalt und Rezeption)

Speziell für den Theaterunterricht
Darstellen von Figuren durch Körperhaltung, Bewegung und Mimik

Die Gruppe geht in neutralem Gang durch dem Raum. Auf ein (akustisches) Zeichen der Spielleitung hin stellt sie mit Körper und Mimik bestimmte Wesenszüge dar (z.B.: überheblich, schüchtern, autoritär, komisch u.ä.). Wenn Körperhaltung und Mimik gefunden sind, bewegt sich die Gruppe als diese Figuren durch den Raum (sucht also eine entsprechende Gangart), bis die Spielleitung durch ein Zeichen abbricht und die Gruppe wieder im neutralen Gang geht. Es folgt die nächste Angabe zu einem neuen Wesenszug usw.

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