Mein Schwanensee

Mutig, stark, kreativ – das sind nur einige der Attribute, die seit Jahrhunderten und länger das Bild des Mannes formen. Im Malersaal des Deutschen Schauspielhauses schaut Christoph Marthaler mit seinem Projekt „Mein Schwanensee“ distanziert und mit feinem Humor auf Männlichkeitswahn und Machtgelüste.    

„Mein Schwanensee“ mit Josefine Israel, Samuel Weiss im Hintergrund, im Vordergrund Magne Håvard Brekke und Sasha Rau. – Foto: Matthias Horn

Die Kritik

Dieser merkwürdige runde, etwas angerostete Top-Loader. Man müsste nur die Wäsche von oben einfüllen, den entsprechenden Starthebel oder -knopf betätigen, und schon würde dieses Waschmaschinen-Modell anfangen zu arbeiten. Ist aber offenbar gar nicht so einfach. Ein Mann im Frack (Bendix Dethleffsen) betrachtet die Maschine von allen Seiten, dreht vorsichtig an irgendwelchen Knöpfen, scheitert aber. Die weiße Unterhose wird ungewaschen über eine Stange gehängt. Resigniert setzt sich der Mann ans Klavier und beginnt vorsichtig zu spielen. 

Keine Frage, wir befinden uns in einer Produktion von Christoph Marthaler. Wie so oft lässt der Regisseur seine Figuren technische Geräte wie Aliens aus einer anderen Welt, vielleicht auch wie versteckte Hoffnungsträger bestaunen, verwehrt ihnen aber häufig den letzten Zugang oder besser: die erhoffte Hilfe. Manchmal sind es Stimmen aus Lautsprechern, die durch Kratztöne kaum zu verstehen sind, manchmal Fahrstühle, die vorbeirauschen, ohne dass jemand aussteigt, manchmal Uhren mit kaputten Zeigern, die eine zeitliche Orientierung verhindern. Hier nun also die scheinbar nicht zu beherrschende Waschmaschine. Die Szene leitet „Mein Schwanensee“ ein, Marthalers jüngstes Projekt am Deutschen Schauspielhaus. Damit beendet er gleichzeitig seine in der letzten Spielzeit begonnene Trilogie. In allen drei Teilen wird die Welt aus einem geschützten Raum heraus betrachtet. Grundlage sind jeweils Texte, Gedichte, Skizzen oder Briefe von Dichterinnen und Dichtern, die sich an Rückzugsorte begeben haben: Hölderlin für „Die Sorglosschlafenden, die Frischaufgeblühten“ (1.Teil), Emily Dickinson für „Im Namen der Brise“ (2.Teil) und jetzt im dritten Teil Texte aus dem Frühwerk von Elfriede Jelinek. 

Marthaler, der Meister der sanften Entschleunigung, ist kein Kämpfer.

Die österreichische Literatur-Nobelpreisträgerin hat natürlich eine dezidierte Meinung zu Machtgelüsten, Machtmissbrauch und Männlichkeitswahn. Man könnte das mit geballter Faust zornig und grell auf die Bühne bringen. Nicht so Marthaler. Er, der Meister der sanften Entschleunigung, ist kein Kämpfer. Eher ein Menschenfreund, der mit feinem Humor Fehlerhaftes sichtbar macht. Seine Figuren haben keine festen Rollen, sie gruppieren sich je nach Text  in verschiedenen Konstellationen im Raum oder beginnen ganz zart zu singen. 

Die Bühne im Malersaal hat Duri Bischoff als Turnhalle mit unterschiedlichen Geräten, einer Kanzel, zwei Klavieren und eben dieser Waschmaschine gestaltet. Kaum, dass der Mann im Frack (Kostüme: Sara Kittelmann) daran gescheitert ist, erscheint eine junge Frau im Business-Hosenanzug (Fee Aviv Dubois) und wäscht problemlos ihre Wäsche, ein Vorbild für die übrigen brav hintereinander aufgereihten Personen mit eingemeißeltem Grinsen im Gesicht. Anfangs sind die Männer die totalen Angeber. Ironiefrei verkünden sie, wer sie seien: Tarzan, „der athletisch gebaute Mann“ (Bendix Dethleffsen), Lindbergh, der am kommenden Tag aufsteigen „muss“ (Magne Håvard Brekke) und „der berühmte Dirigent“ (Samuel Weiss). Ihnen zugeordnet sind Jane (Fee Aviv Dubois), Lindberghs Frau Anna (Sasha Rau) und die sich als durchschnittlich einordnende Balletttänzerin (Josefine Israel). Der „berühmte Dirigent“ will ein bahnbrechendes Ballett-Werk verfassen. Das erinnert zwar sehr an Tschaikowskis „Schwanensee“ (Die Balletttänzerin: „Kommt mir immer bekannter vor…“), aber nein, es ist „Mein Schwanensee“, also sein ganz persönlicher. Je mehr sich die Männer mit ihrem Handeln und ihren Ideen aufplustern, desto lächerlicher werden sie für die Frauen, die mit steinerner Miene deren Gebaren verfolgen. Die Machtverhältnisse kippen, das Herumgetöne („Wenn ein Mann sagt, er muss, dann muss er.“) wird hohl, ebenso wie die Kraftmeierei: Die Gewichte, die die Männer nicht stemmen können, räumen die Frauen beiläufig aus dem Weg. 

Ein leises, eindringliches Statement gegen Engstirnigkeit und Spalterei.

Der Abend endet friedlich, aber mit einer Aufforderung. Die Schauspieler:innen legen sich auf Rollbretter und singen eine verschleppte Version von „Shout!“, dem Hit von Tears for Fears. Darin heißt es: In violent times/ you shouldn’t have to sell your soul/ In black and white/ They really, really ought to know/ those one-track minds/ that took you for a working boy/ Kiss them goodbye/. Ein leises, eindringliches Statement gegen Engstirnigkeit und Spalterei. Langsam verlöscht das Licht im Malersaal. So zart, so klug und humorvoll können feministische Ideen inszeniert werden.   

Weitere Informationen unter: https://schauspielhaus.de/stuecke/mein-schwanensee

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte

Humorvoll-distanzierter Blick auf 

  • Mähnlichkeitswahn
  • Machtfantasien
  • Engstirnigkeit
Formale SchwerpunKte
  • Keine Rollenzuordnung
  • Gruppieren der Figuren in Formationen im Raum oder einzeln
  • Scharf artikulierte, ins Künstliche gehende Sprechweise
  • Häufig starrer Blick ins Publikum
  • Eingefrorene Mimik
  • Gesungene Lieder 
  • Musiktheater
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
  • Ab 17/18 Jahre, ab Klasse 12
  • Empfohlen für den (Deutsch-), vor allem aber für den Theaterunterricht 
Zum Inhalt

Es gibt keinen Handlungsstrang, keinen nacherzählbaren Inhalt. Das Projekt collagiert zum Hauptthema Männlichkeitswahn verschiedene Texte aus dem Frühwerk von Elfriede Jelinek mit Schlagern, Liedern aus Operetten, Chansons und Pop-Songs.

Mögliche Vorbereitungen

Recherche zu 

  • Christoph Marthaler (Regiestil, Projekte, Arbeitsweise)
  • Elfriede Jelinek (Frühwerk)
Speziell für den Theaterunterricht
Übungen zu Formationen

Die Spielleitung teilt den Kurs in zwei Gruppen: Zunächst spielt A und B schaut zu, danach Wechsel.

  • A geht verteilt durch den Raum. Auf ein akustisches Zeichen der Spielleitung bleiben alle Spieler:innen im Freeze stehen und blicken mit neutralem Ausdruck ins Publikum.
  • Die Spielleitung gibt Anweisungen (z.B.: Grinst das Publikum an. Schlagt die Hände vor die Augen. Wendet euer Gesicht nach rechts o.ä.).
  • Das Bild wird aufgelöst, die Gruppe geht erneut durch den Raum. 

Die Spielleitung erklärt, dass nach einem akustischen Signal hin folgende Anweisungen umgesetzt werden sollen (die Anweisungen können jeweils in den Raumlauf gerufen werden):

  • Alle laufen in die rechte Ecke der Bühne, bilden eine Kreis mit dem Rücken zum Publikum und blicken nach unten.
  • Auflösung, Raumlauf (nach Ansage der Spielleitung)
  • Alle bilden eine Reihe parallel zum Bühnenrand, stehen aufrecht mit geradem Rücken.
  • Auflösung, Raumlauf (nach Ansage der Spielleitung)
  • Alle verteilen sich auf der Bühne zu zweit oder zu dritt auf unterschiedlichen Punkten blicken ins Publikum.
  • Auflösung, Raumlauf (nach Ansage der Spielleitung)

Wechsel

Feedback

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert