Die Wanze

Großes Kino am Hamburger Thalia Theater. Mit einer bildgewaltigen Inszenierung von Majakowskis „Die Wanze“ gastiert das Pekinger Meng Theatre Studio bis zum 23. Januar bei den Lessingtagen.

Foto: Liu Dali

Die Kritik

Stille, minutenlang. Von den acht Schauspielenden, die eben noch Stühle und Tische für eine Hochzeitsfeier angeordnet haben, bewegt sich jetzt niemand mehr. Wie eingefroren sitzen und stehen sie da, kein Ton ist zu hören. Bis sich schließlich jemand vorsichtig zu kratzen beginnt, dann der nächste und so weiter. Das verhaltene Kratzen steigert sich zur vollständigen Enthemmung. Die festlich gekleideten Figuren reißen sich die Kleider vom Leib, stöhnen, schreien, sind vollständig Opfer des Juckreizes. Nur eine Frau sitzt unbeeindruckt an einem Tischchen und schreibt. 

Mit dieser Szene beginnt die Inszenierung von „Die Wanze“, einem satirisch-avantgardistischen Stück aus dem Jahr 1929 von Wladimir Majakowski. Der gilt als die prominente Figur der russischen futuristischen Bewegung, die sich u.a. gegen die alte Kunst und klassische Tradition hin zu einer neuen Literatur und Sprache wandte. Zunächst leidenschaftlicher Fan von Lenin und selbst propagandistischer Agitator, kritisierte Majakowski zum Ende der Zwanziger Jahre  die sowjetische Gesellschaft und vor allem deren anwachsende Bürokratie, was sich in „Die Wanze“ niederschlägt.

Die Kritik am chinesischen System ist spielerisch und durchaus komisch, aber letztlich unübersehbar.

An zwei Tagen gastiert die Inszenierung des Pekinger Meng Theatre Studios bei den Lessingtagen am Thalia Theater. Regisseur Meng Jinghui gehört zu den erfolgreichsten Theaterregisseure Chinas und ist auch international bekannt für seine experimentellen Arbeiten. Mit „Die Wanze“ kommt er bereits zum dritten Mal nach Hamburg. Dass er sich nicht brav an die Vorgaben des Originals hält, ist zu erwarten. Wo Majakowskis Geschichte endet, nämlich im Jahr 1979, erzählt sie Meng weiter bis ins Jahr 2050. 

Es geht um den Protagonisten mit dem schönen Namen Iwan Bratfisch, der seine Geliebte betrügt und eine andere Frau heiratet. Auf der Hochzeitsfeier bricht ein Feuer aus, Bratfisch wird im Löschwasser eingefroren und erst fünfzig Jahre später wieder aufgetaut. Zusammen mit einer längst ausgestorbenen Spezies, der Wanze nämlich, findet er sich wieder in einer ihm fremden durchorganisierten Gesellschaft. Die kann nichts mit ihm anfangen und sperrt ihn mit der Wanze zur Ausstellung in einen Käfig. Meng lässt es in der 1979er Zeit noch einmal zu einem Brand und dem Einfrieren von Bratfisch kommen. Daraus entsteht ein dritter Teil, in dem Bratfisch in der durchtechnisierten Welt von 2050 zunächst seiner Gliedmaßen und schließlich seines Hirns beraubt wird. Jetzt ist er vollkommen nutzlos und wird im Zoo ausgestellt. Die Kritik am chinesischen System ist spielerisch und durchaus komisch, aber letztlich unübersehbar.

Foto: Liu Dali

Meng schafft atemberaubende Bilder durch eine drehbare Gerüstkonstruktion – auf der einen Seite im Hintergrund das Profil Lenins als Schattenriss, auf der anderen das eines neutral-wissenschaftlichen Kopfes – (Stage Design: Zhang Wu),  Licht Design (Wang Qi) und oft akrobatische Choreografien seines exzellenten Ensembles.  Eine vierköpfige Live-Band begleitet die Songs oder gibt mit Rock-Musik den Rhythmus vor. 

Herausfordernd für alle diejenigen im Publikum, die ihr Chinesischen noch aufbessern müssen, sind die oft sehr langen Chor- und Monolog-Passagen. Zwar gibt es deutsche Übertitel, aber die metaphorische, oft auf einen durchkonstruierten Satzbau verzichtende Übersetzung erschwert das Verstehen, da man oft vergessen hat, was denn jetzt am Anfang stand. Aber das sind Kleinigkeiten. Der gut zweistündige Abend lohnt einen Besuch in jedem Fall.  

Weitere Informationen unter: https://www.thalia-theater.de/stueck/die-wanze-2024

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