Die Vaterlosen

Augen auf  bei der Gästeauswahl! Wer jemanden wie Platonow einlädt, muss damit rechnen, dass plötzlich alles in Frage gestellt wird. Zu Jette Steckels kluger, mitreißender Inszenierung von „Die Vaterlosen“ beim Hamburger Theaterfestival.

Systemsprenger Platonow (Joachim Myerhoff) Foto: Armin Smailovic

Die Kritik

Noch ist er gar nicht da, aber die noch unkoordinierten Vorbereitungen für das Fest sind in vollem Gange. Platonow, der Dorfschullehrer, steht dabei auch gar nicht im Fokus. Vielmehr soll die Heirat von Sergej (Bernardo Alias Ports), Stiefsohn der jung verwitweten Generalin (Wiebke Puls), mit der attraktiven Sofja (Katharina Bach) gefeiert werden. Platonow ist nur einer von vielen Gästen. Vor dem eisernen Vorhang des Hamburger Schauspielhauses, wo die Produktion der Münchner Kammerspiele beim Hamburger Theaterfestival für zwei Abende gastiert, probt schon mal der Musiker Matthias Jakisic, plaudern die Schauspieler Edmund Telgenkämper als Gutsbesitzer Porfirij und Martin Weigel als Arzt Nikolaj mit den Zuschauenden ganz so, als wären auch sie Gäste dieses Festes. Wiebke Puls als Generalin läuft mit geschulterter Bierkiste durch die Reihen, fordert vermisste Leergutflaschen ein und bietet Kissen an „für die nächsten dreieinhalb Stunden“. So lange wird die Vorstellung von Jette Steckels erster Inszenierung an den Münchner Kammerspielen dauern und, um es gleich vorweg zu nehmen, die Zeit vergeht wie im Flug. Das liegt nicht zuletzt an dem herausragenden Ensemble, das am Originaltext entlang die Dialoge improvisiert und dem Stück auf diese Weise etwas Frisches, Überraschendes gibt. Steckel versteht es, bei dieser Tragikomödie die richtige Balance zwischen Komik und dem dahinter gähnende Abgrund zu halten: Das Gut der Generalin steht vor der Zwangsversteigerung, die Gesellschaft der Müßiggänger hat abgewirtschaftet, Weltekel und Nihilismus machen sich breit, aber statt etwas zu ändern, trinkt und feiert man. Die stilsichere Auswahl der Musik (Musik und Kompositionen: Anna Bauer) trägt dazu ebenso bei wie Florian Lösches Bühnenbild: Stählerne Stäben lassen je nach Lichteinfall (Lichtdeseign: Maximilian Kraußmüller) an russische Birkenwälder, Spieße oder ein Meer aus Sternen denken. 

Steckel geht es um das Verhältnis der Generationen zueinander.

Tschechow war noch keine zwanzig Jahre alt, als er sein erstes, fast 200 (!) Seiten umfassendes Stück schrieb. Nachdem es das Moskauer Maly Theater abgelehnt hatte, vernichtete Tschechow das Manuskript. Erst nach seinem Tod wurde dessen Erstfassung ohne Titelblatt entdeckt, weshalb es heute wegen seiner prägnanten Hauptfigur meist als „Platonow“ aufgeführt wird. Tatsächlich sollte es nach dem Willen des Autors aber „Die Vaterlosen“ heißen (Tschechows Vater war wegen Geldsorgen geflohen, der Jugendliche blieb alleine zurück). Steckel nimmt diesen Titel ernst, denn es geht ihr nicht zuletzt um das Verhältnis der Generationen zueinander, vor allem um das, was die Väter geprägt hat und was sie ihren Kindern hinterlassen haben. Den Bezug zur heutigen Gesellschaft stellt sie über den Dramaturgen Carl Hegemann (Jahrgang 1949) her, sozusagen als „personifizierten Verfremdungseffekt“ (Hegemann). Auf der Bühne empfängt er einen Überraschungsgast und diskutiert mit ihm über anstehende Themen. In der Hamburger Vorstellung ist es der 84jährige ehemalige Intendant des Schauspielhauses Niels-Peter Rudolph. Dessen Bruder Hans Christian Rudolph hatte übrigens 1989 die Rolle des Platonow am Thalia Theater gespielt, im selben Jahr wurde Jürgen Flimms gefeierte Inszenierung zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Auch Steckels Arbeit wurde in diesem Jahr für Berlin ausgewählt – so schließt sich der Kreis.

„An mir ist nichts, woran man sich festhalten kann.“

Was haben die Väter vorgelebt? Einer von ihnen ist der Oberst im Ruhestand (Walter Hess): „Wir haben gekämpft, und wir wussten wofür“, tönt er. Noch immer hat er seinen militärischen Duktus nicht abgelegt und merkt gar nicht, wie ihn sein Sohn, der Arzt, parodiert. Giftiger noch sind Platonows Kommentare: Die Vätergeneration habe auf Kosten anderer gelebt und könne jetzt „in ihren lichtdurchfluteten Altbauwohnungen in Ruhe abnippeln.“ Meyerhoffs Platonow ist wie die anderen Gäste über die Saaleingänge zur Feier gekommen. Im fleckigen T-Shirt und schwarzem Jacket (Kostüme: Pauline Hüners) provoziert er, wo er nur kann, verhöhnt scheinbar Schwächere wie den Studenten Kirill (der sich allerdings bei Abel Haffner durchaus nicht die Butter vom Brot nehmen lässt) und taumelt zwischen der frisch verheirateten Sofja, der im Leben zu kurz gekommenen Generalin („Ich will mein Leben jetzt!“) und seiner jungen Ehefrau Sascha (bei Edith Saldanha eine selbstbewusste Person) hin und her. Sein durchaus komisch daherkommender beißender Zynismus speist sich aus Verzweiflung und Weltekel. „An mir ist nichts, woran man sich festhalten kann“, resümiert er die eigene Orientierungslosigkeit. Meyerhoff zeigt die Vielschichtigkeit dieser verkrachten, klarsichtigen, an sich und der Welt verzweifelnden Existenz. Ein Charismatiker, ein Kotzbrocken, dem man – wie dem gesamten Ensemble – ewig zuschauen könnte. Ein zu Recht umjubelter Abend. 

Ein Kommentar

  1. Das ist du aber ganz vortrefflich aufgeschrieben, meine Liebe! So war es – 3,5 Stunden kurzweilig – wann erlebt man das schon mal. Aber es spielt ja auch nicht überall der Jockel mit 🙂

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