Verwandlung

Gregor Samsa tritt nicht auf. Der Protagonist aus Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ wird in einer beispielhaften Geschichte nur am Rande erwähnt. In seiner sehr freien Überschreibung überträgt Burhan Qurbani Samsas Grundprobleme wie Ausgrenzung,  Anderssein und die daraus erwachsene Verzweiflung am Beispiel von vier Menschen ins Heute. Zur Uraufführung von „Verwandlung“ am Thalia in der Gaußstraße. 

Ringen um Identität (v. li.: Sinan Güleç, Sandra Flubacher, Cennet Rüya Voß)- Foto: Krafft Angerer

Die Kritik

Ein eingefrorener schwarzer Schwall von der Decke und vier schwarze Inseln erinnern an abgekühlte Lava-Ströme. Darauf der zerborstene Grundstock eines Hauses, umgekippte Stühle, ein Tisch, eine Couch. Das Ensemble trägt weiße, mit eben dieser schwarzen Farbe besudelte Overalls, ein von oben strahlender Scheinwerfer setzt nur punktuelles Licht auf die Spielenden, der Rest bleibt im Dunklen. „Die Welt lag verkohlt in Trümmern“, heißt es zu Beginn. Möglich, dass die dystopische Ausstattung (Bühne und Kostüm: Elisa Limberg) darauf hinweisen will. Allerdings erschließt sich ihre Bedeutung in Hinblick auf Qurbanis „Verwandlung“ nicht wirklich. Auf einem Bildschirm über der Bühne sind die Titel einzelner Abschnitte (Prélude, Liebster Vater, Insomnia u.ä.) zu sehen. Eine von den Ensemblemitgliedern geführte Live-Kamera projiziert darauf die jeweils im Zentrum stehenden Personen.

Der junge Türke steht vor der Abschiebung.

Jede der vier Figuren hat eine eigene Geschichte: der türkische Germanistikstudent (Sinan Güleç), der in Deutschland geborene Araber (Camill Jammal), die Therapeutin (Sandra Flubacher, auch als Vater des jungen Arabers), die junge Frau auf der Ausländerbehörde (Cennet Rüya Voß, auch als Freundin des jungen Arabers). In ihren Begegnungen spiegeln sich Ängste, heruntergeschluckte Frustrationen, Schamgefühl, Einsamkeit und Verzweiflung. Der junge Türke steht vor der Abschiebung, seine Aufenthaltsgenehmigung wird nicht verlängert. Mit sanft-professionellem Bürokraten-Sprech erklärt Cennet Rüya Voß als Angestellte, dass sie leider machtlos sei. Erst später gibt sie zu, wie schwer ihr diese Gespräche fallen, wie sie sich abends mit Alkohol und Drogen betäubt und bis zur Besinnungslosigkeit im Club tanzt. Ihr gegenüber sitzt gebeugt Sinan Güleç, hört zu, weist das Schreiben vom Amt von sich („Ich krieg keine Luft beim Lesen!“), ergießt auf Türkisch einen Wutschwall über die Frau. Seiner Verzweiflung lässt er auch bei der Therapeutin freien Lauf. Im Kontrast zu seiner Hitzköpfigkeit steht Sandra Flubachers ruhiger, klarer Umgang mit ihm. Sie nimmt ihm die Scham vor seinem gescheiterten Selbstmord, nennt seine Gedanken dazu eher mutig als feige. Flubacher übernimmt auch die Rolle des arabischen Vaters. Er hat es gut gemeint, als er nach Deutschland geflohen ist und seinen Sohn hier und nicht in Palästina hat aufwachsen lassen. Doch der Sohn (Camill Jammal) kann mit diesem Privileg nicht umgehen („Ich habe das goldene Ticket gezogen.“). Er verspürt Scham und Schuld „meinem Volk“ gegenüber, frisst das aber alles in sich hinein. Bis seine Freundin ihn antreibt, endlich zu sagen, was ihn bedrückt. „Genozid! Genozid! Genozid!“, schreit er und bricht darüber zusammen. Sie alle eint, dass sie sich durch den Blick der anderen verwandelt fühlen in Personen, die sie eigentlich nicht sind.

„Wir sind beschädigt. Ungeziefer.“

Burhan Qurbani, in Deutschland geborener Sohn afghanischer politischer Flüchtlinge, kennt die Situation seiner Figuren. Das Fremdsein, das Nicht-wirklich-dazugehören hat er unter anderem 2020 in seinem vielfach prämierten Film „Berlin Alexanderplatz“thematisiert, ebenfalls eine sehr freie Überschreibung von Alfred Döblins Roman.  In „Verwandlung“ bettet er bei der Verschränkung der vier Schicksale Aspekte aus Kafkas Biografie mit ein: Der junge Araber schreibt wie Kafka selbst einen „Brief an den Vater“, die Freundin des jungen Arabers heißt Felice wie Kafkas Braut, und letztlich ist da eben die ausweglose, kafkaeske Lage dieser Menschen. „Wir sind beschädigt. Ungeziefer“, sagen sie. 

Qurbanis Produktion, begleitet von düsteren Streichern oder knallenden Techno-Beats (Musik: Camill Jammal), mag dem Bildungsbürgertum vielleicht plakativ erscheinen. Nicht aber jungen Menschen. Mucksmäuschenstill verfolgt eine ganze Reihe von ihnen die Premiere und applaudiert am Ende begeistert. Der knapp 100minütige Abend spiegele Probleme wider, wie sie sich heute in der Gesellschaft darstellen, erklären einige von ihnen später. Deshalb habe sie „Verwandlung“ so fasziniert. Wenn wieder mehr junge Leute ins Theater kommen sollen, ist so eine Inszenierung eventuell ein richtiger Weg. Möge sich das bei dieser Generation herumsprechen.  

Weitere Informationen unter: https://www.thalia-theater.de/de/stuecke/verwandlung/187

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Ausgrenzung
  • Fremdsein
  • Suche nach Identität
Formale SchwerpunKte
  • Einsatz von Live-Kamera
  • Chorisches oder Echo- Sprechen
  • Herausgreifen einzelner Situationen über Licht und Kamera
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufe
  • Ab 16/17 Jahre, ab Klasse 11/12
  • Empfohlen für den Deutsch-, PWG- und Theaterunterricht
Zum Inhalt

Dem türkischen Germanistikstudenten wird die Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert. Er versteht nicht, warum und versucht sich umzubringen. Das misslingt, er kommt in die Psychiatrie und trifft auf eine Therapeutin, die ihm genau zuhört. Sie erkennt, dass seine Bemühungen in Deutschland anerkannt zu werden und dazuzugehören, der Grund für seine Verzweiflung sind. Sie spielt ihm Aufzeichnungen von vergangenen Sitzungen vor, er erinnert sich an sein Gespräch mit der Angestellten in der Ausländerbehörde. Die Frau erklärt irgendwann, dass sie auch nur ihren Job macht, aber mit den Schicksalen, die sie zu verantworten hat, nicht zurechtkommt. 

Ein junger in Deutschland geborener Araber empfindet Scham für seine privilegierte Situation, weil in Gaza an seinem Volk ein Genozid verübt wird. Er fühlt sich weder als Deutscher noch als richtiger Palästinenser. Auch er fühlt sich fremd, anders, ausgegrenzt. Durch den Blick der anderen fühlen sie sich verwandelt in Personen, die sie nicht sind.

Mögliche Vorbereitungen

Franz Kafka: Die Verwandlung (Lektüre oder genaue Inhaltsangabe)

Recherche zu

  • Franz Kafka (Biografie)
  • Burhan Qurbani
  • Situation von Migrant:innen in Deutschland
  • Politische Parteien zur Migration

Weitere Informationen bietet das digitale Programmheft unter: https://www.thalia-theater.de/de/stuecke/verwandlung/187/programmheft

 

Im Unterrichtsgespräch:

Seht ihr Parallelen von Kafkas Erzählung oder seinem Leben zur Situation von Migrant:innen in Deutschland?

Speziell für den Theaterunterricht
Übungen aus dem Performance-Bereich

Im Unterschied zum Theaterspielen wird in der Performance nicht gespielt, keine Rolle eingenommen. Die  Spieler:innen bleiben sie selbst.

 Linienübungen.

a) Zwei Reihen ( A und B) stehen einander gegenüber, jede:r hat auf der gegenüberliegenden Seite eine:n Partner:in. Reihe A  bestimmt mit Handzeichen, wie nah der/ die Partner:in  kommen soll/darf, wann er/sie anhalten oder zurückgehen (rückwärts gehen mit Blick zu Partner:in A). 

Wichtig: Nicht spielen, bei sich sein. Was halte ich aus, was will ich an Nähe zulassen? Der/die  andere reagiert, indem er/sie vorwärts/rückwärts läuft

b) Die gleich Übung, aber mit Stimme („Komm“,, Stopp“,usw ), sonst wie oben. Beobachten, was der Körper tut, wenn die Stimme dazu kommt.

Wechsel. Spieler:innen auf der B-Linie geben Anweisungen an A.

Variation:

a) Zwei Reihen wie oben, diesmal nur vorwärts gehen erlaubt, bei Bedarf umdrehen, Paare bleiben aber auf einer Linie, spielen mit Nähe und Distanz 

b) s.o. Liegen oder Hinknien als Option (vorher üben, wie man liegt und aufsteht)

Dabei entspannt sein, bei sich bleiben – immer wieder gucken, was man will und aushält

c) Paare auflösen, durch den Raum in rechten Winkeln gehen. Dabei immer den ursprünglichen/ die ursprüngliche Partner:in im Auge behalten. Möglich ist es,  auch neue Paare zu bilden. Wichtig: auf Linien bleiben.

Museum

Gruppe A verteilt sich im Raum, jede:r sucht eine ihm angenehme Pose. B geht wie im Museum herum und betrachtet die einzelnen Figuren respektvoll.

Wechsel

Feedback: Wie hat  es sich auf den Linien angefühlt als Zeichengeber:in/ als Gehorchende:r? Wie hat es sich als „Museumsobjekt“ / als Betrachter:in angefühlt?

„Ich bin“ – Linien

Sechs Spielerinnen stehen in einer Reihe.

  1. Runde:  Der Reihenfolge nach geht jeder Spieler/jede Spielerin vier Schritte vor und gibt vier  Informationen von sich: Name (Ich bin…), evtl. Alter, Wohnort, Hobby.

Damit wird das Grundtext-Material generiert.

  1. Runde: Die Spieler :innen gehen jetzt eigenständig und nicht mehr in einer festgelegten Reihenfolge nach vorne und übernehmen  Textteile von den anderen, verkürzen oder ergänzen sie.
  2. Runde: Die Geschichte wird erweitert, indem die Spieler:innen noch stärker auf den Text der anderen reagieren, allerdings nicht spielen, sondern weiter nur nach vorne gehen, aber durch Lautstärke und Ausdruck eines Gefühls (traurig, wütend, fröhlich o.ä.) dem Gesagten eine „Farbe“ verleihen.
Erstellen einer Szene

Die Spielleitung teilt den Kurs in Gruppen a sechs Personen (max).

Aufgabe: 
  • Erarbeitet und gestaltet eine szenische Umsetzung der kurzen Erzählung „Gib’s auf“ von Franz Kafka, an der alle Gruppenmitglieder beteiligt sind.
  • Versucht dabei, soweit möglich auf Sprache (linguistische Zeichen) zu verzichten.
  • Verwendet die euch bekannten theatralen Mittel.
Text: Gib’s auf 

Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, dass es schon viel später war, als ich geglaubt hatte, ich musste mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: „Von mir willst du den Weg erfahren?“ „Ja“, sagte ich, „da ich ihn selbst nicht finden kann.“ „Gibs auf, gibs auf“, sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.

(Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen, hg.v. Paul Raabe, Fischer Taschenbuch 1078, Frankfurt/M. 1970, S.320f.) 

Präsentation und Feedback

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