Benjamin von Stuckrad-Barres umstrittener Roman wird am Thalia Theater: nacherzählt. Zur Inszenierung von Christopher Rüping.
Die Kritik
Die Erwartungen an diesen Abend sind hoch. Immerhin war der Roman, dessen Uraufführung die Saison am Thalia Theater eröffnen sollte, zum Zeitpunkt der Spielzeitplanung noch gar nicht fertig. Regisseur Christopher Rüping hatte nur einfach mal bei Benjamin von Stuckrad-Barre nachgefragt, woran er denn gerade so arbeite. Das war nun ausgerechnet „Noch wach?“, ein Werk, in dem Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe des Chefredakteurs eines bekannten Boulevardsenders sowie die damit verbundenen Verwicklungen des Verlagschefs im Mittelpunkt standen. Und wer Eins und Eins zusammenzählen konnte, wusste, dass es hier nur um den Chefredakteur der „Bild“-Zeitung Julian Reichelt und Springerchef Mathias Döpfner gehen konnte. Stuckrad-Barre hatte viele Jahre exklusiv als Autor für den Springer-Verlag gearbeitet und war sogar mit Döpfner befreundet. Der Roman heizte schon vor der Veröffentlichung im April diesen Jahres Diskussionen an, danach übernahmen deutschlandweit die Feuilletons. „Noch wach?“ war umstritten und in aller Munde. Was also konnte dem Theater Besseres passieren, als den Text zeitnah auf die Bühne zu bringen?
Was genau will Rüping mit dieser Inszenierung erzählen?
Mit Christopher Rüping ist ein Regisseur verpflichtet, der sich mit Stuckrad-Barre auskennt. Am Alstertor hatte er bereits im Frühjahr 2018 dessen „Panikherz“ inszeniert. Beide, so geben sie zu Protokoll, verstehen sich so gut, dass der Autor dem Regisseur freie Hand lässt, er also mit dem Text machen kann, was er will. Nur was genau will Rüping mit dieser Inszenierung erzählen? Wo liegt bei beinahe dreieinhalb Stunden sein Fokus? Stuckrad-Barres Text aus der Ich-Perspektive ist ein sprachlicher Genuss (Trotz auffälliger Parallelen zu seinem tatsächlichen Leben betont er in Interviews, dass er selbst nicht mit dem Ich-Erzähler identisch ist). Scharfzüngig und ironisch betrachtet und kommentiert der Erzähler sich und seine Umgebung, seine Wortschöpfungen sind bitterböse und zum Schreien komisch. Aber er erzählt eben. Wörtliche Rede gibt es kaum. Ein undramatischer Text also, für dessen theatrale Umsetzung es eine richtig gute eigene Idee und/oder einen Schauspieler wie Edgar Selge oder Matthias Brandt braucht (Selge hatte Houellebeqs „Unterwerfung“ und Brandt „Mein Name sei Gantenbein“ in einer konzentrierten Bühnenfassung gezeigt). Rüping verteilt den Ich-Erzähler gleich auf vier Figuren (Nils Kahnwald, Julia Fiedler, Cathérine Seifert, Oda Thormeyer) in schwarz glitzernden Kostümen. Kahnwald erscheint zweimal mit Brille und Jeans als schmieriger Chefredakteur, Maike Knirsch bündelt in ihrer Sophia alle #MeToo-Opfer des Konzerns, Hans Löw spielt überwiegend den „Freund“, also den Verlagschef. Wie spannend der Abend sein kann, zeigt Löw ziemlich am Schluss, als er sowohl die Perspektive des Freundes als auch die des Ich-Erzählers einnimmt. So konzentriert hätte man gerne mehrere Szenen erlebt. Statt dessen verhaspelt sich die Inszenierung mit Nebensächlichkeiten, spielt Songs aus, ohne dass ein erkennbarer Nutzen zu sehen ist (Matze Pröllochs am Schlagzeug, Gesang: Inéz) und verlegt sich zum Teil auf bemerkenswert platte Bilder: Los Angeles, genauer: Hollywood, wo der Ich-Erzähler zum ersten Mal von den Übergriffen erfährt, wird mit Glitzer-Palme und Glitzer-Swimmingpool auf der Vorbühne angedeutet, Berlin, wo laut Erzähler „fünf Monate lang November“ herrscht, stellt sich mit Dauerregen, Harry-Potter-ähnlichem Grusel-Schloss (die Verlagszentrale) dar (Bühne: Peter Baur). Den schwarzen Särgen am Rand entsteigen der „Freund“ und seine Mitstreiter als Vampire mit schwarzen bodenlangen Capes …
Gut, es ist zum Teil ganz lustig, wenn das Publikum angespielt und Stuckrad-Barres Text zur Geltung kommt. Aber der Abend nimmt einfach kein Ende. Statt zu schärfen, zieht er sich wie ein Kaugummi. Schade!
Nähere Informationen unter: https://www.thalia-theater.de/stueck/noch-wach-2023
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
- Machtmissbrauch
- Sexuelle Übergriffe auf Untergebene
- Beeinflussung der beruflichen Karriere als Druckmittel
- Verstrickung von Verantwortlichen in #MeToo-Affäre
- Aufbegehren der #MeToo-Opfer
Formale Schwerpunkte
- Aufteilen der Erzählerfigur auf mehrere Personen
- Vermeidung von klaren Rollenzuweisungen
- Anspielen des Publikums
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
- ab 16 Jahre, ab Klasse 11
- empfohlen für den Ethik-, Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt
Die Geschichte spielt zum Teil in Los Angeles, größtenteils aber in Berlin und ist sehr nahe an den tatsächlichen Ereignissen. Der Ich-Erzähler, der den gleichen Namen wie der Autor des Romans trägt und auch sonst viele Parallelen zu ihm aufweist, macht mit seinem Freund, dem Chef eines großen Verlages, eine Autotour an der kalifornischen Küste. Der Name des Freundes wird nie genannt. Der Ich-Erzähler betrachtet das großspurige Gebaren des Freundes bereits mit Abstand. Kritischer wird er, als er zufällig am Pool seines Hotels, dem Chateau Marmont in Hollywood, von Missbrauchsaffären hört und bald darauf auch von Sofia, einer Bekannten aus Berlin, angerufen wird, die ihn um Hilfe bittet. Beide kennen sich aus einer Selbsthilfegruppe für Drogen- und Alkoholkranke. In Berlin prahlt der „Freund“ ihm und den Mitgliedern des Verlags gegenüber mit dem Neubau des Verlagshauses, im Anschluss daran erfährt der Ich-Erzähler von Sofia, wie sie der Chefredakteur des Boulevard-Senders wegen ihrer Frisur (ungekämmte Locken statt glatter Haare) vor allen gedemütigt hat und sie auf ein Nebengleis des Senders versetzen will. Sie und andere hatte er zuvor umgarnt, ihr Talent gelobt und sich als einsamen Mann ausgegeben, der nachts nicht einschlafen könne und die Wärme eines weiblichen Körpers brauche. Mit Textnachrichten, die mit „Noch wach?“ begannen, hatte er sie und andere belästigt. Um jedoch Karriere zu machen, waren die Frauen zunächst auf ihn eingegangen, ohne den Machtmissbrauch zu erkennen bzw erkennen zu wollen. Erst als Sofia sich wehrt, kommen auch die anderen aus der Deckung und gründen mit ihr zusammen im Zuge der #MeToo-Bewegung eine Gruppe, mit der sie unter Mithilfe des Ich-Erzählers den Machtmissbrauch und die damit verbundenen Verstrickung des „Freundes“ anprangern. Amerikanische Zeitungen werden darüber informiert, was insofern unangenehm für den Verlag ist, als er in den USA weitere Geschäfte machen will. Tatsächlich wird bei einer Nachhaltigkeits-Gala, bei der die Spitzen des Verlags und wichtige Personen des öffentlichen Lebens eingeladen sind, der Text einer amerikanischen Zeitung online-gesendet. Die Gruppe der Frauen hofft, damit zumindest die Absetzung des Chefredakteurs erreicht zu haben. Aber der zeigt fadenscheinig Reue und erhält von dem „Freund“ eine zweite Chance.
Mögliche VorbereitungeN
Als vorbereitende Hausaufgabe oder Referat:
- Recherche zu Julian Reichelt als Chefredakteur der „Bild“-Zeitung
- Recherche zu Mathias Döpfner als Chef des Axel-Springer-Verlags
- Recherche zu Leben und Werk von Benjamin von Stuckrad-Barre, speziell zu seiner Arbeit beim Springer-Verlag
- Recherche zur Diskussion um „Noch wach?“
- Recherche zu Anfängen und Konsequenzen der #MeToo-Bewegung
Speziell für den Theaterunterricht:
Track-Working
Alle Spieler*innen malen einzeln 15 Symbole zu zwei gewählten Begriff (z.B.„Macht“ und „Abhängigkeit“ ) auf. Die Zeichen dürfen sich auch wiederholen.
Danach werden Gruppen zu sieben oder acht gebildet. In der Gruppe einigt man sich auf eine Zeichenfolge von 10 (mindestens aber sieben) Zeichen, die wie eine Hitliste hintereinander notiert werden.Die Gruppe entwickelt entsprechend der „Hitliste“ eine Bewegungsabfolge, die sie synchron ausführt und bei der sie langsam bis an den Bühnenrand geht (Bewegung – Schritt – Bewegung usw. Auf Genauigkeit achten!).
Die Gruppe sucht sich dazu eine Musik und probt die Bewegungsabfolge noch einmal mit Musik.
Vorlesen – Gehen – Stehen – Bleiben
Die Spieler:innen stehen in einer Reihe; die Spielleitung liest die Inhaltsangabe zu „Noch wach?“ vor; die Reihe geht langsam auf die gegenüberliegende Seite des Raumes zu; wann immer dem /der einzelnen Spieler:in etwas interessant vorkommt, bleibt er/sie stehen; nach dem Vorlesen nennt jede:r seinen/ihren Themenschwerpunkt, der auf je einer Karte gesammelt wird; bei einem zweitem Durchgang können weitere hinzukommen. Über diese Themen lässt sich diskutieren. Im Anschluss daran kann mit Hilfe der Karten ein eigener Handlungsbogen festgelegt werden. Einzelne Szenen können in Standbildern erarbeitet werden.