Verlorene junge Menschen ohne Hoffnung und Perspektive – die SchauSpielRaum Produktion des Jungen Schauspielhauses zeigt Simon Stephens Stück „Morning“.
DIE KRITIK
Alles ist scheiße. Musik, Kunst, Theater, die Stadt, alles. Jess (Naomi Michaela Douo) kotzt sich so richtig aus. Und wie so dasteht auf der Großen Bühne des Jungen Schauspielhauses und ihre Sätze beinahe rhythmisch ausspuckt, wirkt sie nicht einmal besonders wütend. Eher resigniert. „Jeder will am Ende Hoffnung“, sagt sie, „aber es gibt sie nicht.“
Nirgendwo gibt es Schutz.
Mit dem Auftritt von Jess beginnt „Morning“, ein Stück von Simon Stephens. Der Brite gehört zu den erfolgreichsten und meistgespielten ausländischen Gegenwartsautoren im deutschsprachigen Raum, „Morning“ entstand vor 10 Jahren in Zusammenarbeit mit Jugendlichen aus Großbritannien und der Schweiz. Im Rahmen der SchauSpielRaum Produktionen hat es jetzt der Film- und Theaterregisseur Adrian Figueroa mit sechs Darsteller*innen zwischen 15 und 21 Jahren inszeniert. Die SchauSpielRaum Produktionen arbeiten ausschließlich mit nicht-professionellen Spieler*innen. Gerade bei einem Stück wie diesem erfordert das viel Fingerspitzengefühl. Figueroa scheint davon genug und mindestens ebenso viel Vertrauen in sein junges Ensemble zu haben. Denn die unaufhörlich rotierende Drehbühne ist leer, bietet weder Rückzugs- noch weitere Spielmöglichkeiten, überlässt die Figuren sich selbst. Nirgendwo gibt es Schutz. Im Gegenteil. Ein an Ketten hängender ein Felsbrocken (Bühne und Kostüme: Irina Schicketanz) über der Bühnenmitte droht die Jugendlichen zu erschlagen, Nebelschwaden und Sound (Musik: Ketan Bhatti) untermalen die bedrohliche Atmosphäre: Der zarte Gesang vom Anfang wird zunehmend von dumpfe Beats übertönt, die Schläge donnern laut und lauter. Ein fahles kaltes Licht (Licht: Ole Danke) nimmt den Figuren jede Farbe, sie wirken wie Negative ihrer selbst – junge Menschen, denen eigentlich die Zukunft gehören sollte.
Eine Momentaufnahme voller Gewalt und Aggression
Eine Momentaufnahme voller Gewalt und Aggression, hineingeleuchtet in eine Gruppe Jugendlicher, denen der Autor keinen Kontext und keine Psychologie gibt. Das Erstaunliche ist, dass das Stück durch die überzeugend spielenden jungen Darsteller*innen absolut authentisch wirkt. Die Dialoge spiegeln ihre Sprache wider, die entsprechenden Gesten, die Art zu gehen gehören zu ihnen. Da ist die ständig mit oder gegen die Rotation der Bühne antigernde Stephanie (Alissa Lazar). Sie lebt mit ihrem jüngeren Bruder Alex (Milan Lutter) bei ihrer krebskranken, im Sterben liegenden Mutter, einen Vater gibt es nicht. Stephanie fühlt gleichzeitig Leere, Langeweile und Unruhe. Das treibt sie um. Ständig ist sie in Bewegung, provoziert ihre Mitschülerin Anna (Vanessa Nguyen) und ihren Freund Stephen (Kevin Citozi). Der einzige, zu dem sie Vertrauen hat, ist Cat (Leon Ndiaye). Aber der wird bald aufs College gehen und die Stadt und damit auch Stephanie verlassen. Stephanie zeigt keine Emotionen, bleibt kalt, kann sich nicht spüren. Im Spiel, aus Frust oder einer Laune heraus tötet sie Stephen. Was sie dabei oder danach empfindet? Wahrscheinlich nichts.
Ein Stück ohne Anfang und ohne Ende. Ein kurzes grelles Schlaglicht auf eine Jugend, die an nichts mehr glaubt. Das sind 70 Minuten starker Tobak, die jede Menge Fragen aufwerfen.
Näheres unter: https://junges.schauspielhaus.de/de_DE/stuecke/morning-15.1328041
INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE
Inhaltliche Schwerpunkte
Jugendliche voller
- Sehnsucht nach Hoffnung
- Resignation
- Gefühlskälte
Formale Schwerpunkte
- Verzicht auf Requisiten
- leere rotierende Drehbühne als Spielort
- Auftritt der Spieler*innen vom Rand der Drehbühne
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
- ab 15/16 Jahre, ab Klasse 9/10
- empfohlen für WiPo-, Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt
Das Stück erzählt keine Handlung. Es ist vielmehr die Momentaufnahme einer Gruppe von Jugendlichen, ohne dass ein Anfang oder Ende gesetzt wird.
Im Mittelpunkt steht Stephanie. Sie lebt mit ihrem jüngeren Bruder Alex bei ihrer krebskranken, im Sterben liegenden Mutter. Besonders traurig ist Stephanie darüber nicht, vielmehr meint sie, nach dem Tod der Mutter endlich frei zu sein und der Stadt, der Schule, den Freunden zu entkommen. Das hofft sie jedenfalls. Andererseits hat sie die Erfahrung gemacht, dass sich Hoffnungen nicht erfüllen – und dann ist sowieso alles egal. In ihr hat sich eine kalte Gleichgültigkeit, eine Leere breitgemacht. Sie empfindet eigentlich gar nichts. Der einzige, den sie gerne mag, ist Cat. Aber der wird demnächst aufs College gehen und die Stadt und Stephanie verlassen. Aus lauter Frust beginnt Stephanie zusammen mit Cat ihren Freund Stephen zu provozieren. Was zunächst wie ein Spiel beginnt, geht über in Gewalt und endet mit Stephens Tod. Und Stephanie? Macht einfach weiter wie bisher. Reue wäre eine Empfindung – und die hat sie nicht.
Mögliche VorbereitungeN
Als vorbereitende Hausaufgabe oder in Gruppenarbeit:
- Versetzt euch in das Jahr 2043. Beschreibt rückblickend die Jugend von 2023 (Begriffe sammeln – Diskussionsgrundlage)
- Recherchiert zu Studien über Jugend 2023
- Vergleicht eure Beschreibungen mit den Studien
Auswertung und Diskussion im Unterrichtsgespräch
Weitere Recherchen zu
- Jugendliche ohne Empathie
- Jugendgewalt
Speziell für den Theaterunterricht:
Zeitlupenkampf
Die Spielleitung lässt Paare bilden, die sich einander gegenüberstehen.
Aufgabe:
- Bekämpft euch in Zeitlupe, ohne euch dabei zu berühren.
- Vollführt die einzelnen Handlungen ganz genau (!) und nacheinander: A: Aktion – B: Reaktion, B: Aktion – A: Reaktion usw. (A vollführt einen Tritt o.ä., B zeigt über Geste, Mimik, Bewegung die Reaktion und vollführt die nächste Handlung.)
- Beachtet möglichst die drei Ebenen (unten, Mitte, oben)
Präsentation von einiger Kämpfe
In Gruppen:
- Überlegt, mit welcher Musik der Kampf unterlegt werden kann.
Präsentation ausgewählter Kämpfe mit Musik.
Besprechung der Wirkung