The Wanderers

Sie sind ständig auf der Suche nach dem Glück und finden keine Ruhe. Elias Perrigs gelungene Inszenierung von Anna Zieglers Stück am Ernst Deutsch Theater.

Ines Nieri (Esther), Julian M. Boine (Schmuli), Elzemarieke de Vos (Julia Cheever),
Gideon Maoz (Abe) (v.l.) – Foto: Oliver Fantitsch

DIE KRITIK

Beziehungen sind kompliziert, schon klar. Bei den Figuren in Anna Zieglers „The Wanderers“ geht es allerdings noch eine Umdrehung schwieriger. Da ist nicht nur das Verhältnis zwischen zwei Partnern ein Problem, da spielt auch die Prägung durch die Eltern und deren Tradition eine entscheidende Rolle. Und dann gibt es ja auch noch das Wunschdenken, das manchmal derart in die Wirklichkeit hineingrätscht, dass sich Grenzen verschieben, wenn nicht gar auflösen. Eine höchst komplizierte, die detektivische Ader des Publikums fordernde Angelegenheit also.

Doch der Reihe nach. Das Stück ist in Williamsburg, Brooklyn angesiedelt, dem Zentrum der jüdischen Bevölkerung New Yorks, vor allem der orthodoxen chassidischen Gemeinde. Deren strenge, rückwärts gewandte Tradition sieht aus wie ein Klischee, ist aber leider Realität und bot bereits den Hintergrund für Maria Schraders Erfolgsserie „Unorthodox“: Die Frau als Gebärmaschine, die sich ausschließlich um Haushalt und Kinder kümmern und ihr Echthaar unter einer Perücke verstecken muss; der Mann, der das Sagen hat; der Rabbi als nicht zu hinterfragende Institution. Anna Ziegler, Jahrgang 1979 und reformierte Jüdin, ist unweit von Williamsburg und seiner chassidischen Gemeinde aufgewachsen. Ihr Stück „The Wanderers“, 2018 in San Diego/USA uraufgeführt, ist jetzt von  Elias Perrig am Ernst Deutsch Theater als deutschsprachige Erstaufführung sehr klar und sensibel in Szene gesetzt worden.

„Wahrscheinlich will ich gerade nichts sein von dem, was ich bin.“

Ziegler verschränkt zwei Zeitebenen. Da ist zum einen die Gegenwart mit Abe und Sophie. Ein modernes New Yorker Paar, beide sind Schriftsteller. Er allerdings richtig erfolgreich mit jeder Menge Lesereisen, die sogar von einem Filmstar wie Julia Cheever besucht werden. Sie dagegen versucht ihre Ambitionen mit Kinderbetreuung und Haushalt in Einklang zu bringen und schafft es erstmal nicht auf das Niveau ihres Mannes.  Da ist zum anderen die Vergangenheit mit Esther und Schmuli, einem klassisch chassidischen Paar. Sie sind, – so viel Spoiler muss sein -, Abes Eltern und haben seine Identität und Haltung geprägt. Das klare Bühnenbild der amerikanischen Ausstatterin Marsha Ginsberg nimmt diese verschiedenen Ebenen durch helle, sich nach hinten verjüngende Rahmen auf. Das Gestern ist eher im hinteren Teil angesiedelt, das Heute meist im vorderen. Die Verschränkung der Ebenen geschieht dadurch, dass die Figuren manchmal einander zuschauen: Abe sieht der Hochzeit seiner Eltern zu, Esther und Schmuli beobachten den Streit zwischen Abe und Sophie.

Gideon Maoz spielt seinen Abe als einen, der gerne dem lässigen Image eines New Yorker Intellektuellen entsprechen möchte. Das klappt aber nur bedingt. Denn Abe ist mit sich und seinem Leben nicht rund. „Wahrscheinlich will ich gerade nichts sein, von dem, was ich bin“, resümiert er an einer Stelle. Er sucht nach Auswegen, verliert sich in Fantasien mit Julia Cheever (ganz Diva: Elzemarieke de Vos) und riskiert damit seine Ehe mit Sophie. Die aber ist bei Jane Chirwa eine selbstbewusste, moderne junge Frau. Sie hat keinen Bock, ihre eigene Schriftstellerkarriere hintan zu stellen und geht letztlich ihren eigenen Weg. Überhaupt sind die Frauen die stärkeren in Zieglers Stück. Esther, Abes Mutter, wird in eine arrangierte Ehe mit Schmuli gezwungen und zunächst begehrt sie nicht auf. Sie ist Chassidin und da geht alles seinen vorgeschriebenen Gang. Ines Nieri gelingt es, diese zunächst unsichere, schüchterne Person in eine Furie zu verwandeln, die um ihre Kinder kämpft. Sie hinterfragt die starren Regeln und zieht mutig ihre Konsequenzen. Schmuli, ihr Mann, versteht das alles nicht. Großartig, wie Julian M. Boine diese verklemmte, zutiefst unglückliche Figur in keiner Sekunde verrät. Sicher, er verkörpert den orthodoxen Juden und handelt entsprechend. Aber im Gegensatz zu seiner Frau ist er zu schwach, zu hilflos, um sich von alledem zu lösen. 

Die Suche nach dem Glück eint die Figuren. Abe glaubt es im Flirt mit dem Filmstar Julia Cheever zu finden, Sophie in der Trennung von Abe, Esther in der von Schmuli, Schmuli in der Hoffnung, dass alles wieder so wird, wie es einmal war. Ein anspruchsvoller, unbedingt sehenswerter Abend.     

https://www.ernst-deutsch-theater.de/programm/veranstaltung/the-wanderers-283

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • die rastlose Suche nach dem Glück
  • die Prägung durch Tradition und Elternhaus
  • der Umgang mit der chassidischen Tradition
Formale Schwerpunkte

In einem Bild:

  • Verschränkung von Zeitebenen
  • Verschränkung von Wunschdenken und Realität
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
  • ab 17/18 Jahre; ab Klasse 12/13
  • empfohlen für Ethik- und Theaterunterricht
Zum Inhalt

Abe und Sophie sind ein modernes New Yorker Ehepaar mit zwei Kindern. Er ist als Schriftsteller erfolgreich, bei seinen Lesereisen sitzen sogar Stars im Publikum, wie zum Beispiel die von ihm angebetete Julie Cheever. Über Emails beginnt eine Art Flirt zwischen den beiden, von dem sich Abe mehr erhofft, von dem Sophie aber nichts wissen darf. Sophie muss ihre Karriere dagegen notgedrungen hintan stellen, weil sie sich um die Kinder kümmert. Ihre Ambitionen, wieder ein Buch zu schreiben, verfolgt sie jedoch weiterhin. Dass Abe ist, wie er ist, liegt an seinen Eltern Esther und Schmuli. Beide sind chassidische Juden, ihre Ehe ist seinerzeit entsprechend der Tradition arrangiert worden. Während Schmuli weiterhin die orthodoxe Art zu leben fortführt, ändert sich Esthers Blick darauf nach dem Besuch bei einer Freundin außerhalb der Gemeinde. Sie beginnt Fragen zu stellen, fragt nach Modernisierungen im Haushalt und wird deshalb von Schmuli mit der Gemeinde im Rücken bestraft: Man entzieht ihr ihre Töchter. Esther zieht die Konsequenzen und verlässt ihren Mann gemeinsam mit ihrem Sohn Abe. Als Erwachsener versucht Abe sich von seinen Eltern und den Chassiden zu lösen. Mit Sophie, die er von Kindesbeinen kennt, glaubt er sein Glück zu finden. Aber die Beziehung funktioniert nicht so, wie er es sich vorstellt. Sophie hat ihren eigenen Kopf und trennt sich von ihm. Abe rennt  dem Glück weiter hinterher.

Mögliche VorbereitungeN

Über Referate, Lehrervortrag oder in Gruppenarbeit

  • Was beinhaltet das chassidische Judentum? Wo wird es gelebt? Welche Auswirkungen auf die Gesellschaft hat es?
  • Die orthodoxen Juden in Israel: Welche Rolle spielen sie in der aktuellen Politik?

Im Klassenverband oder als Vorbereitung zu Hause ist der Film über die Probenarbeit, Überlegungen zur Inszenierung und das jüdische Leben in Hamburg zu empfehlen:

https://www.ernst-deutsch-theater.de/programm/veranstaltung/the-wanderers-283

youtube https://www.youtube.com/watch?v=he22Cj8xVsofi

Speziell für den Theaterunterricht

Die Inszenierung zeigt deutlich Figuren im Hoch- und im Tiefstatus. 

Körperhaltungen probieren

Die Gruppe steht im Kreis, alle probieren folgende Körperhaltungen:

  • schulterbreiter Stand, Hände in die Hüften, Kinn nach oben > Macht
  • Beine übereinander gestellt, Kopf schräg > Unsicherheit
  • Am T-Shirt zupfen, von unten jdn. ansehen > Unterwürfigkeit, Unsicherheit 
Statusbegriff

Begriff von Keith Johnstone; er hat nichts mit einer sozialen Position zu tun und muss nicht mit Wertung verbunden sein; d.h. der A-Status muss nichts Besseres sein; z.B. im engen Flur muss eine: r in den B-Status gehen und sich klein machen, damit man aneinander vorbeikommt. 

A-Status/ Hochstatus: herrschend; Körperhaltung groß, stark; herrisch, von oben herab, macht sich breit, nimmt viel Raum ein, beansprucht Platz in Breite und Höhe, spricht viel, nimmt an man hört gerne zu, spricht laut, spricht langsam und sorgfältig, Leute werden warten und zuhören, fummelt nicht herum, hält Blickkontakt, andere müssen aus dem Weg gehen; geht nahe an andere heran, Selbstvertrauen, bewegt sich langsam, wohlüberlegt; Körperspannung; ist unnahbar; strahlt aus: Komm mir nicht so nahe. 

B-Status/ Tiefstatus: gesenkter Kopf, an Kleidung ziehen; Trippelschritte; klein machen, langsam; hektisch, schüchtern; sitzt auf Stuhlkante, will keinen Platz beanspruchen, spricht schnell, nicht sehr laut, spricht eine Reihe von Ohs oder Ähs, weil unsicher, verzieht nervös das Gesicht; neigt zu Übersprungshandlungen; keine Spannung, zusammengefallen; strahlt aus: Ich tue niemandem etwas .

Statusübergänge: Übergänge von Hoch- zu Tiefstatus sind meist fließend; bzw. gibt es Abstufungen von 1 (niedrigste Stufe) bis 5 (höchste Stufe).

 

Statusübung – bzw spiel

Einteilung in Fünfer-Gruppen. Jede:r bekommt von der Spielleitung eine Zahl zwischen 1 und 5 genannt (1= tiefster Tiefstatus, 5 = höchster Hochstatus). Niemand weiß von der Zahl des anderen, reagiert nur. 

Aufgabe:  Ihr trefft euch an der Bushaltestelle. Jede Figur geht, steht und reagiert seiner/ihrer Nummer entsprechend .

Jede Gruppe präsentiert, die Zuschauer nennen im Anschluss, wer welchen Status verkörpert hat und erklären, woran das deutlich wurde.