Fleisch

Was geschah bei der Party damals? War es ein sexueller Übergriff? Oder doch nicht? Wie Erinnerungen zu verschiedenen Ergebnissen kommen und Sprache für eine Klärung nicht ausreicht, davon erzählt Julia Redders spannende Inszenierung im Rangfoyer des Hamburger Schauspielhauses. 

Was hat Jo (Eva Maria Nikolaus) über Ronan (Matti Krause) geschrieben? – Foto: Sinje Hasheider

DIE KRITIK

 „Warum bist du gekommen?“ Jo fragt das. Aber da ist der Boden des schicken Restaurants bereits mit Essen und zerschlagenem Geschirr übersät. Und Max, der die Frage gilt, kauert besudelt und verstört an der Wand. Dabei erscheint sie anfangs doch so forsch, als sie ihren Jugendfreund Ronan in dessen Restaurant aufsucht.

Mit festem Schritt, den Blick nach vorne betritt oder besser: marschiert Eva Maria Nikolaus als Max auf die Bühne im Rangfoyer des Hamburger Schauspielhauses. Eine augenscheinlich selbstsichere junge Frau mit einem klaren Ziel vor Augen. Doch ihr Anliegen ist kompliziert. Es geht um die Nacht bei einer Party vor fünfzehn Jahren, in der sie und Ronan Sex miteinander hatten. Max sieht sich in ihrer Erinnerung als Opfer, und da ihr autobiografisch geprägter Roman kurz vor der Veröffentlichung steht, möchte sie Ronan der Fairness halber darüber informieren.

Max kann Ronans Existenz vernichten

Von der Schwierigkeit über einen (vermeintlichen?) sexuellen Übergriff zu sprechen, eine gemeinsame Sprache zu finden und beide Parteien anzuhören erzählt Gillian Greens 2020 uraufgeführtes Stück „MEAT“. Jetzt hatte es unter dem Titel „Fleisch“ als deutschsprachige Erstaufführung im Rangfoyer des Hamburger Schauspielhauses Premiere. Inszeniert hat es Julia Redder, bislang Regieassistentin am Schauspielhaus u.a. bei Katie Mitchell.  Redder beweist ein Gespür für das Nicht-Aussprechen, für die Sprachbarrieren zwischen gefühltem Opfer und Täter (denn bewiesen ist nichts). Eva Maria Nikolaus  als Max und Matti Krause als Ronan unterbrechen ihre Sätze, wehren mit den Händen ab, beginnen neu, verhaspeln sich, flüchten in Allgemeinplätze. Ihre Körpersprache ist da viel deutlicher: Wenn Max anfangs hereinmarschiert und sich neben Ronan stellt, um ihm zu sagen, in ihrem Buch würden keine Namen genant und „nichts, was sich zuordnen ließe“, dann steht sie gerade wie ein Soldat. Nichts kann sie von ihrem Weg abbringen. Krauses Ronan dagegen wird immer kleiner, denn: „Aus der Nummer komme ich doch nie wieder raus.“ Noch ist nicht ausgesprochen, worum es tatsächlich geht. Doch die Halbsätze, die Andeutungen lassen unschwer auf einen sexuellen Übergriff schließen, den Max Ronan zum Vorwurf macht. Sie kann damit seine Existenz und die von Jo (Ruth Maria Kröger) vernichten. Beide haben das Restaurant mit dem offensiven Namen „Fleisch“ gegründet. Ein Laden direkt und ohne Kompromisse, wie Ronan stolz erklärt. Für Menschen mit Intoleranzen oder Allergien, für Vegetarier oder Veganer hat er eine klare Botschaft: „Verpisst euch!“ Max findet diese Haltung typisch für Ronan. So war er schon damals, als sich beide ineinander verliebten. 

Vieles ist zerstört – im Restaurant, in ihnen und zwischen ihnen.

Der ovale, lange Marmortisch auf blauem Podest (Bühne und Licht: Sangwah Park) ist groß genug, um daran nicht nur die aus buntem, glibberigem Material hergestellten Speisen zu sich zu nehmen. Er ist auch groß genug, um als Spielfläche zu dienen, wenn Ronan und Max einander nur noch anschreien, sich mit Essen bewerfen und  Max wie eine Richterin über dem am Boden hockenden Ronan sitzt. 

Es dauert fast bis zum Ende des 75minütigen Abends, bis Max ihre Erinnerungen an den Abend der Party formulieren und Ronan ihr seine Erinnerungen entgegenhalten kann. Einen gemeinsamen Nenner finden sie nicht. Aber vieles ist zerstört – um sie herum im Restaurant, in ihnen und zwischen ihnen. „Warum bist du gekommen?“, fragt Jo am Ende.  Um durch die Wahrheit zu heilen, entgegnet Max. Darauf Jo: „Und? fühlst du dich geheilt?“ Dann wird es dunkel. Dieser unbedingt sehenswerte Abend gibt keine einfachen Antworten. Er wirft eine Menge notwendiger Fragen auf.

Näheres unter: https://schauspielhaus.de/stuecke/fleisch

INFORMATIONEN FÜR LEHRKRÄFTE

Inhaltliche Schwerpunkte
  • Schwierigkeit über sexuelle Übergriffe zu sprechen
  • Sprache als unvollkommenes Kommunikationsmittel
  • Unterschiedliche Wahrnehmung und Erinnerung von Ereignissen
Formale Schwerpunkte
  • Sprechen in Halbsätzen
  • Körpersprache als Ersatz für Worte
  • Lichtwechsel zur zeitlichen Trennung einzelner Szenen
  • Sound-Hintergrund
Vorschlag für Altersgruppe/Jahrgangsstufen
  • ab 16 Jahre, ab Klasse 10
  • empfohlen für Ethik-, Deutsch- und Theaterunterricht
Zum Inhalt

Max hat einen autobiografisch geprägten Roman geschrieben, der kurz vor der Veröffentlichung steht. Darin geht es auch um einen Vorfall bei einer Party, bei dem sie sich als Opfer eines sexuellen Übergriffs sieht. Das Ganze ist fünfzehn Jahre her, aber sie meint, sich genau zu erinnern. Der Fairness halber will sie ihren Jugendfreund Ronan, dem sie den Übergriff vorwirft, über das Kapitel informieren. Natürlich werde sie weder Namen nennen oder irgendetwas, was sich zuordnen ließe. Dennoch sieht Ronan schon bei den ersten Andeutungen, wie seine mühsam aufgebaute Existenz ganz plötzlich vernichtet werden könnte. Er stammt wie Max aus prekären Verhältnissen, hat sich hochgearbeitet und mit seiner Freundin Jo das todschicke Restaurant „Fleisch“ gegründet. An den Abend bei der Party erinnert er sich zunächst gar nicht, erst nach und nach setzen sich einzelne Puzzleteile für ihn wieder zusammen. Die ergeben jedoch ein ganz anderes Bild als das von Max. Darin ist er nicht Täter, sondern eher betrunkenes Opfer – also genau das Gegenteil von dem, was Max erinnert. Beide finden keine gemeinsame Sprache für diesen Abend. Statt dessen eskaliert das Gespräch, an dessen Ende es nur Verlierer gibt.

Mögliche VorbereitungeN

Als vorbereitende Haus- oder Gruppenaufgabe könnten folgende Themen recherchiert werden:

  • Das Sprechen über sexuelle Übergriffe
  • Die MeToo-Bewegung

Im Unterrichtsgespräch:

  • Die MeToo-Bewegung – Chancen und Probleme
Speziell für den Theaterunterricht: 
Innere Haltung und Status 

Die Spielleitung stellt zwei Stühle nebeneinander auf die Bühne und bittet zwei Mitglieder der Spielgruppe folgende Situation allein über die Körperhaltung darzustellen:

Person A hat über Person B ein schlimmes Gerücht verbreitet. Das Ganze ist Jahre her, beide haben sich seitdem nicht wieder gesehen.  Zufällig treffen sie im Theater aufeinander, wo sie auf den letzten beiden Plätze nebeneinander sitzen.

Anschließend: Reflexion 

Was Sprache nicht sagt

Die Spielleitung teilt die Gruppe in Paare. 

Aufgabe:

Der nachfolgende Dialog lässt das Wesentliche aus. Überlegt euch vorher:

  • In welcher Situation befindet sich A? In welcher B? Was wissen beide voneinander?
  • Was kann/will A nicht sagen? 
  • Wie reagiert B?
  • Probt den Dialog, indem ihr über Körperhaltung, Gesten, Mimik deutlich macht, wie schwer es ist, über euer „Thema“ zu sprechen.

Dialog 

A: Ich muss mit dir reden.

B: Warum?

A: Weil ich…

B: Was?

A: Es ist nicht so einfach. Ich…

B: Verstehe, also…

A: Nein, ich glaube, du….

B: Auf keinen Fall, nein, ich…

A: Doch, bestimmt. Ich habe…

B: Sorry, nein. Also wirklich…